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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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kein Problem. Ich hatte ihn nur angesprochen, weil er so wunderbar riecht. Offensichtlich können Sie wirklich gut backen!«
    »Kann
ich
ein Stück von dem Kuchen haben?«, frage ich, um die Konversation zu beenden.
    Jana und die Mäuschenfrau kucken beide gleichermaßen entsetzt, und ich verschwinde schnell durch die Wohnungstür ins Freie.
     
    »Wow, das war asozial, Luise!«
    »Ich weiß. Entschuldige. Ich hab nur keinen Nerv mehr, stundenlang in Wohnungen rumzustehen, die ganz offensichtlich nichts für uns sind.«
    »Verstehe ich vollkommen. Aber das eben war grausam.«
    »Na und? Das war das Laminat auch.«
    »Du bist hässlich, wenn du bockig bist!«
    Ich schicke Flo eine kurze SMS , um ihn auf den aktuellen Stand zu bringen. Über die Ferne hat er seine Erleichterung im Griff und antwortet: » SCHADE . ABER WIR FINDEN SCHON NOCH WAS !«
    Jana, die in ein paar Stunden wieder zurück nach Leipzig zu ihrem Studium muss, möchte noch ein bisschen durch die Gegend laufen. Ich sollte aber zurück ins Atelier. Vor der nächsten Wohnungsbesichtigung heute Abend muss Herr Forstmanns Anzug für die erste Anprobe fertig werden.
    »Lu, lass den Kopp nicht so hängen! Ihr findet schon was! Und bis dahin bist du einfach ein sehr tapferes Schneiderlein.«
    »Wirklich?
Den
Witz traust du dich noch? Willst du mit ins Atelier kommen, oder läufst du lieber noch ein bisschen alleine rum?«
    »Ich denke, ich gehe noch schnell Papa und Pauli besuchen, bevor ich los muss. Sind beide krank.«
    »Dann grüß schön. Und komm bald wieder! Sag mal, darfst du eigentlich schon Medikamente verschreiben?«
    »Ich studiere Psychologie, nicht Medizin.«
    »Dann lern das gefälligst. Es muss doch irgendwie möglich sein, von deiner Berufswahl zu profitieren!«
    »Du meinst neben meinen ausgezeichneten Zuhörereigenschaften?«
    »Ich meine trotz deiner ausgezeichneten Zuhörereigenschaften. Im Ernst, lern, was nötig ist, um Rezepte schreiben zu dürfen, und dann fangen wir an zu dealen, wie klingt das?«
    »Armselig, aber nicht uninteressant. Ich seh, was ich machen kann. Tschüss, olle Muffel-Lu!«, sagt Jana und schlendert weg.
    »Und wann kann ich endlich ein Stück von dem Kuchen haben??«, brülle ich ihr hinterher und ernte einen Mittelfinger.

» F rollein Albrecht, glauben Sie, dass Ohren und Nase im Alter größer werden oder dass eher der Kopf schrumpft?«
    Herr Forstmann sieht rührend aus, wie er in seiner Altherrenfeinrippunterwäsche vor mir steht, während ich versuche, ihm den bisher nur mit groben Nähten und ein paar Sicherheitsnadeln zusammengehaltenen Anzug überzustülpen, ohne ein Blutbad anzurichten.
    »Ich habe irgendwo gelesen, dass Ohren und Nase weiterwachsen, während der Körper tendenziell mickriger wird«, sage ich mit Stecknadeln im Mund. Sofort bereue ich das Wort mickrig, aber Herr Forstmann lacht. »Da sagen Sie was! Mickrig trifft es hervorragend. Es wirkt so, als würde ein alter Körper ein bisschen verkümmern, oder? Das haben Sie sehr schlau beobachtet. Aber Sie sehen hier vermutlich den ganzen Tag mickrige Herren mit zu großen Ohren, was?« Er lacht und hustet gleichzeitig ein bisschen. Ein Geräusch, das mir mit den Jahren sehr vertraut geworden ist. Alte Menschen lachen oft ein bisschen verrotzt. Selbst wenn sie nie geraucht oder unter Tage gearbeitet haben.
    »Sie haben ein wenig abgenommen seit der letzten Vermessung.«
    »Ach, Kindchen, Frau Forstmann hat mich auf Diät gesetzt. Sie macht es hinter meinem Rücken und glaubt, ich wäre zu senil, um zu merken, dass die Butter auf meinem Brot nun Magerine ist und die Fettaugen auf der Wurst nur noch halb so groß. Sie versucht mich sogar zu diesem Yogi zu überreden.«
    »Yoga.«
    »Yoga. Was glaubt sie eigentlich, was ich noch leisten kann mit diesem Körper? Ich bin doch keine Lady Dingens mehr!«
    »Lady Gaga?«
    »Lady wer?«
    »Schon gut.«
    Herr Forstmann ist wohl so Mitte siebzig. Körperlich eigentlich ganz gut in Form, soweit ich das beurteilen kann. Geistig ist er mehr auf zack als ich manchmal. Theoretisch könnte er Yoga machen und ein wenig abnehmen. Aber ich verstehe seinen Missmut. Sich im Frühwinter seines Lebens noch mit anderen penetrant Sterbeunwilligen auf eine Yogamatte zu stellen, um eine traurige Light-Version der üblichen Sonnengrüße zu absolvieren, ist erniedrigend. Und unnötig. Warum denn jetzt noch umstrittene lebenserhaltende Maßnahmen einleiten, wenn rauchen, fett essen und stundenlang Pay- TV glotzen viel mehr
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