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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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jetzt?«
    »Dass nur noch ein gelber da ist. Andere Farbe also.«
    »Noch mal blau.«
    »So genügsam!«
    Ich stehe auf und gehe aufs Klo. Flo kuckt mir hinterher und imitiert beidhändig und geräuschvoll anerkennende Pistolenschüsse gen Himmel. Das macht er jedes Mal, wenn ich nackt oder in Unterwäsche vor ihm rumlaufe.

Memo
    War dir bewusst, dass Halloween inzwischen auch in Deutschland ein so großes Ding ist, dass tatsächlich von Wohnungstür zu Wohnungstür gelaufen wird, um Süßes zu bekommen oder Saures zu geben?
    Ein paar Tage nachdem du gegangen bist, hat es an unserer Wohnungstür geklingelt, und als ich sie öffnete, standen vier Piraten und zwei Mütter vor mir und brüllten mich an und fotografierten mein verheultes Gesicht. Und ich habe überhaupt nicht gewusst, was jetzt von mir erwartet wird. Und als ich endlich verstand, bekam ich Panik. Ich habe nie Süßes. Ich habe noch nicht einmal Obst oder Choco Pops oder so. Zum Glück ist mir dein geheimes Süßigkeiten-Depot eingefallen, und ich habe seinen gesamten Inhalt in die mir entgegengestreckten geschminkten Schlünde geworfen. Drei Tüten Gummibärchen und die Schokotaler, die deine Mutter uns zum Einzug geschickt hat, und auch diese kleinen Schokoeierdinger. Alles weg.
    Später hatte ich ein schlechtes Gewissen. Zum einen hatte ich jetzt wirklich gar nichts mehr, um weitere geschminkte Kinder und ihre fotografierenden Mütter abzuwehren, zum anderen sollte ich nicht deine geheimen Vorräte weggeben. Ich kenne niemanden, der eine solche Leidenschaft für Süßes hat wie du. Eigentlich ist es absurd, wie viel Dreck du in dich reinschaufeln kannst. Du liebst Zucker so sehr wie andere Menschen Welpen oder Diamanten. Immer wenn du mich wirklich gut leiden kannst, legst du mir Schokoriegel auf das Kopfkissen oder neben meine Zahnbürste oder in meine Schuhe. Und obwohl mir Süßkram eher egal ist, rührt es mich trotzdem jedes Mal sehr, weil ich weiß, wie groß die Liebeserklärung ist, die du mir damit machst. Du gibst dein Heiligstes an mich weiter. Und jetzt habe ich dein Heiligstes an Kinder mit Schnurrbärten weitergegeben.

D ieses Mal riecht alles gut. Enorm gut sogar, denn die Noch-Mieterin hat augenscheinlich Kuchen gebacken. In irgendeiner Dokumentation habe ich mal gesehen, dass viele amerikanische Makler vor den Besichtigungsterminen in den zu verkaufenden Häusern Kekse backen. Nicht nur, um mit den fertigen Cookies direkt einen gastfreundschaftlichen Snack anbieten zu können, sondern weil der Geruch von Frischgebackenem Heimeligkeit und Nähe vermittelt. Dem potentiellen Käufer wird also unterbewusst ein Gefühl von Zuhause infiltriert, so dass er sich in der vanillegeschwängerten Atmosphäre direkt ein Frühstück mit den Lieben vorstellen kann.
    Ich glaube nicht, dass dieser Trick hier bewusst angewandt wurde, zumindest wird uns keinerlei Gebäck angeboten, dennoch sehe ich schnell die Notwendigkeit, mit dem Duft von frischem Zitronenkuchen über das Mittelmaß der Wohnung hinwegzutäuschen.
    In der Anzeige klang eigentlich alles ganz schön. 3 Zimmer, 75  qm, Parkett und zumindest am äußeren Rand des von uns bevorzugten Kiezes.
    »Das ist im Leben kein Parkett«, flüstert Jana.
    Flo hat es nicht geschafft. Die Anzeige kam kurzfristig, und ich wollte die Erste sein.
    »Nein. Das ist Laminat. Echt fieses. Und es ist auch nicht der erste Stock, sondern Hochparterre.«
    »Finde ich aber nicht so schlimm.«
    »Was? Dass der Boden aussieht, als hätte jemand wirklich Untalentiertes seine Vorstellung von Holz gemalt? Oder dass jeder, der größer ist als eins siebzig, in die Wohnung kucken kann?«
    Jana rollt die Augen.
    »Jana, das Zimmer zum Hof hat Gitter vor den Fenstern!«
    »Haben Sie gebacken?«, fragt Jana die mäuschenhafte Mieterin, die sofort verschreckt in Habachtstellung geht.
    »Nein!«
    Jana verzieht ihre Augenbrauen in Richtung der noch abkühlenden Springform.
    »Das ist nur ein Kuchen.«
    »Den Sie gebacken haben!«
    »Aber nicht für Sie!«
    Jana zuckt kurz zusammen.
    »Natürlich nicht! Ich meinte nur: Es riecht herrlich!«
    »Ja, aber den können Sie nicht haben!«, japst die Mäuschenfrau erschreckend kurzatmig.
    Jana versucht es mit einem Themawechsel, während ich eigentlich schon fertig besichtigt habe und gern gehen möchte.
    »Warum ziehen Sie denn aus?«
    »Ich würde Ihnen ja etwas anbieten, aber der Kuchen ist nun mal nicht für Sie!«
    Nun ist Janas psychologischer Ehrgeiz geweckt: »Das ist wirklich
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