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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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die nebenbei ein würdiges Statussymbol waren. Wenn der Tag der Hofstange gekommen war, pilgerten die Menschen von weither und sahen zu, wie die Stange sehr langsam einen oder zwei Meter gehoben wurde, worauf Knechte hinzuspringen und das nächste Stück Stamm einsetzen mussten, das mit einem langen Stift in der Mitte geschnitzt worden war und einem Loch im Boden, für den nächsten Stift. Jeder dieser Stecker war immer fingernagelbreit dicker als der alte. Ausgestattet mit Wachstumsringen wie bei einem richtigen Baum, wuchsen die Marienstangen damit aus den Dörfern, bald ragten ihre Spitzen auch über die Hügel der Landschaft, bald war ihr Ende mit dem Auge von unten nicht mehr auszumachen, aber das ferne Pfeifen vom Wipfel spornte die Gläubigen unentwegt an. Die Stämme steckten in eisernen Käfigen und wurden auf den ersten zehn Metern noch von langen Eisenstäben geschient, aber nur zur Sicherheit, denn eine gut gebaute Hofstange stand in sich fest, wie ein riesiger und perfekt konischer Baum ohne Äste.
    In diese Zeit fiel der große Kahlschlag der hiesigen Wälder, der Holzverbrauch der mehrfach im Jahr wachsenden Marienstangen war enorm. Eichen waren besonders begehrt, denn eine Eichenstange, so sagte man, stand stabiler als eine Fichtenstange und vertrug die Witterung der Jahrhunderte, auch wenn manche darauf vertrauten, dass eine Mischung aus allen Hölzern die beste Stange ergab, weil sie etwas flexibler war und besser in den Winden lag. Statt in die Kirche zu gehen, die gegen jede Vernunft keine Stange, sondern nur Turm und Glocken hatte, stieg die Landbevölkerung sonntags auf die Hügel, um an klaren Tagen etwa abschätzen zu können, welche der Hofstangen, die in der Mundart hier auch »Poln« genannt wurden, gesprochen aber mit weichem P, am höchsten, welcher Bauer der respektabelste war. Aber bald verloren sich auch diese Schätzungen im Dunst der Höhe. In den besten Zeiten, das hatte der Vater mal aus einer der Heimatchroniken vorgelesen, die er zur Entspannung studierte, waren etwa vierhundertachtzig Poln gestanden. Sie wurden von Generationen von Bauern gepflegt und waren Stolz und Wahn jedes Hofes. Es gibt zahlreiche Berichte von Stängnern, die über der Pflege und dem Wuchs ihrer Hofstange die Landwirtschaft vernachlässigten und den Hof in den Ruin trieben.
    Mit der Strahlkraft der Muttergottes ging auch die Zahl der Hofstangen in den letzten beiden Jahrhunderten zurück, ein Sturm im Jahr 1867 riss allein fünfundfünfzig der fest verankerten Poln zu Boden. Blitze waren ein anderes häufiges Ende, auch wenn gesagt werden muss, dass sie wesentlich seltener zum Fall einer Stange beitrugen, als man das gemeinhin annehmen möchte, aus den besonders gläubigen Epochen sind jedenfalls überhaupt keine Blitzschläge verzeichnet. Hofstellen gaben ihre Stange auch auf, wenn sie nicht mehr zu längen war oder die Höfe als Erbteile zertrümmert wurden. Dazu setzte man von Saumhändlern teuer gekaufte Termiten in die Stämme und ließ ihnen ihr Werk, bis die Stange irgendwann ausgehöhlt war und leicht wie Balsaholz in sich zerfiel oder vom Wind zertragen wurde.
     
    Pildau hatte noch eine intakte Hofstange, und wenn die Opis auch sonst nichts auf das Gebaren der Bauern gaben, war ihnen dieses Erbe des Ortes als Herausforderung hochwillkommen. Die Hofstange war für uns morgens der erste und abends der letzte Blick. Ohne sie, das wusste ich genau, wäre die sehr alte Hofstelle Pildau auseinandergefallen wie die Stäbe eines Mikadospiels.
    Der Großvater pflegte sanft den ächzenden Stamm zu tätscheln und mir zu flüstern, wie er meinem Vater als Kind erzählt hatte, die Erdachse würde in Gestalt dieser Stange austreten und folglich befänden wir uns hier in Pildau, wie jedem einleuchten müsse, am Ende der Welt. Ich kann mir heute nicht vorstellen, dass mein Vater jemals jung genug war, diesen Unsinn zu glauben, aber wann immer die Sprache auf diese Sache kam, ging er darüber hinweg, und nur seine Mundwinkel ließen glauben, dass etwas Winziges daran sein könnte.
    Mein Vater Max Honigbrod kontrollierte die Stange, indem er das rechte Ohr daran legte, er horchte auf die Geräusche am Stamm und wie sich der Wind darin fing, und ich sah ihm dabei von unten zu. Jeder Fehler im Stamm und jede Veränderung lässt sich hören, das war seine Überzeugung. Manchmal winkte er mich herauf, wenn oben ein besonderes Wetter war, dann presste ich mich an das blanke Holz und musste lautlos bis achtzehn zählen,
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