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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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Tatsache hatte der Großwesir bei seinem Geschenk nicht in Betracht gezogen. Er setzte, das kann ich heute so sagen, bei allen Menschen sein Universitätsniveau voraus und war zumindest leicht irritiert, wenn man ihm nicht leichtfüßig dorthin folgte. Hätte ich ihm damals gesagt, dass ich noch nicht schreiben konnte, wäre ihm das wie ein kurioses Missverständnis vorgekommen.
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, das wäre sein Kommentar gewesen, und er hätte sich peinlich berührt zurückgezogen wie jemand, der versehentlich die Tür zum falschen Zimmer geöffnet hat. Also schwieg ich über die Details meines Analphabetismus und trug das leere Buch den ganzen Tag mit mir herum, weil es etwas damit zu tun hatte, dass er mit mir sprach wie mit einem Erwachsenen.
     
    Vielleicht muss ich, bevor dieser sechste Geburtstag fortschreitet, etwas über den Ort schreiben, an dem ich diesen und alle anderen Geburtstage bis zu meinem zwanzigsten verbrachte.
    Pildau ist in der Flurkarte als Hofstelle eingetragen, das ist etwas mehr als ein Bauernhof, auch wenn es zu meiner Zeit schon etwas weniger war. Ganz früher hatte es zwei große Höfe gegeben, ein paar Nebengebäude und zwei Austragshäuser, dazu eine kleine Kapelle, die aussah, als wäre der Dom von Padua im Verhältnis eins zu vier geschrumpft worden. An der Kapelle gab es einen schon ins Unscharfe verwitterten Gedenkstein, auf dem zu lesen stand, dass hier ein Papst geboren worden war, mit Namen Poppo von Brixen. Ich hielt den Stein und Poppo lange Zeit für einen der aufwendigeren Witze meines Vaters und stolperte erst später und zufällig in einem Buch über das kurze, glücklose Leben des Papstes Poppo in Rom, das keinen ganzen Monat gedauert hatte. Das hinderte meinen Vater natürlich nicht daran, mir gelegentlich die Hand auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Jasper, wie du vielleicht weißt, werden bei uns Päpste geboren.« Dazu setzte er seinen enttäuschten Kardinalsblick auf und beließ es ansonsten dabei. Der Spruch verfehlte nie seine Wirkung, ich war zuverlässig beschämt, auch wenn ich nie Papst werden wollte.
    Die Hofstelle jedenfalls war verlassen und bestand aus kaum mehr als unserem Haus, in dem ich mit meinem Vater, meinem Großvater und gelegentlich der Lene-Mama wohnte. Die hieß Marlene und war nicht meine richtige Mama, aber das war mir egal, ich mochte sie, wenn sie da war, und vermisste sie nicht, wenn sie weg war, und ich vermute, den beiden anderen Männern ging es ähnlich. Unser Haus war eines der behäbigen Bauernhäuser, wie sie diese Gegend eben hervorgebracht hat, mit breiter Front und vielen winzigen Fenstern nach vorn. Die gekalkte Fassade ging nach einigen Metern rückseitig in einen verholzten, langen Kuhstall über, wodurch das Gebäude etwas außer Form geriet. In dem Stall gab es keine Tiere, dort arbeitete mein Vater oder hielt sich zumindest die meiste Zeit dort auf. Vor dem Haus verlief der Feldweg, der die einzige Zufahrt nach Pildau war. Ich kannte tausend Wege zu unserem Haus, aber es gab nur einen, auf dem die Zündapp meines Vaters fahren konnte. Der Feldweg machte eine kreisrunde Schleife um unsere Hofstange und führte dann wieder zurück. Danach kamen nur noch Wiese und Acker und der Löschweiher, an dessen Ufer eine Reihe Pappeln und Birken und eine ansteigende Wiese grenzten, die wir den steilen Berg nannten, ich weiß nicht genau, warum. Auf meinem Schlitten im Winter kam er mir tatsächlich steil vor, zumal es als Auslauf nur den Weiher gab, aber heute ist der steile Berg doch kaum mehr als einer jener sanften Hänge, die dieser Landschaft etwas Schwung geben und sie eine Winzigkeit aufregender machen als das Umland.
    Es ist wohl so, die Abenteuer, die wir zu Beginn unseres Lebens in jeder Hecke, an jedem Stein und jedem Hügel sehen, kommen uns später so gewöhnlich vor wie das ganze Leben. Aber zuerst sind diese Dinge die Grenzposten alles Neuen, die Marksteine unserer ganzen Welt, und es ist möglicherweise wichtig, das nicht zu vergessen.
    Links neben dem Weiher war eine weitere Scheune, in der der Rübenernter Universal meines Großvaters aufgebockt steht, etwas oberhalb die Kapelle, meistens abgeschlossen, da ihr Dachstuhl morsch war und niemand wusste, wie lange er noch oben blieb. Der zweite Hof lag versetzt hinter unserem und war, seit ich ihn kannte, verfallen, er hieß der Pfänderhof, und nie nannten wir ihn anders. Er trug ein enges Kleid aus Holunderbüschen und Brennnesseln, das ihn jedes Jahr dichter
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