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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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Vätern und vielleicht auch Kindern gab, die diese Aufgabe erledigten, und ich hätte sie gern besucht, wegen der anderen Kinder. Mein Vater blieb bei den Sitzungen stumm und beteiligte sich nicht an dem Lotsenamt des Großvaters, er ließ stattdessen seinen Blick unruhig entlang der Straße laufen, die sich als Band durch die Landschaft zog, bis sie in vager Biegung hinter Anhöhen und Hügeln verschwand. Dort hinten, wenn es nach links, wo der Großvater saß, weiterging, kam die Grenze. Wie jedes Kind konnte ich nicht erklären, was eine Grenze war, aber das Wort allein hatte ja alles, was es brauchte. Es war das Schnittige, mit dem die Opis es aussprachen, das Endgültige seines Klangs, das mich lange annehmen ließ, die Grenze dort wäre eine Art Ende der Welt. Als ich älter war, schien sie mir immerhin noch eine universale Prüfung zu sein, der sich alle Reisenden zu unterziehen hatten, vielleicht hatte ich das aber auch aus einer Episode meiner Gutenmorgengeschichte. Die Grenze lag noch etwa dreißig Kilometer von Pildau entfernt, das Land, das dahinter begann, war Tschechien, und ich war im Gegensatz zum Reiseritter Robert niemals dort. Denn das gehörte auch zu unserem Straßenbesitz, dass wir nie auf der großen Straße fuhren. Als wäre unsere Welt hinter dem Hügel mit dem Löschweiher, den alten Schuppen und Himbeersträuchern die wahre und die Straße, auf der Tag und Nacht wie besinnungslos die Lastwagen fuhren, nur Auswuchs einer ganz anderen Welt, dessen Aufsicht wir gnädig übernahmen. In meiner Gutenmorgengeschichte gab es ein eingesperrtes, grau gestreiftes Monster, ein bisschen dumm, wenn ich mich richtig erinnere, mit dem der Großwesir jahrelang seine liebe Not hatte und das nichts essen wollte außer Teertee und Asphaltbraten. Das Monster, das war die Straße.
     
    Auf der einen Seite das Dorf, auf der anderen Seite die große Straße, dazwischen Pildau, ein in den Hügeln vergessener Hof mit drei Generationen Honigbrods, die hier nicht heimisch waren, wie mein Vater oft betonte. Eine seiner Kurzpredigten nach dem Abendessen ging etwa so: »Du musst nirgends heimisch sein, weil du es überall sein wirst, Jasper. Und wer will schon heimisch sein in einer Gegend mit derart vielen halben Hügeln, nicht wahr? Schwöre mir, dass du Mittelmäßiges immer den anderen überlässt. Sei nie der dritte Bobfahrer, hörst du? Richtige Berge oder das Meer, das wäre eine angemessene Kulisse für einen Jasper Honigbrod, nicht wahr?« Dabei zeigte er auf mich und meinte natürlich trotzdem sich.
     
    Auch wenn es einem Beobachter nicht gleich aufgefallen wäre, folgte unser Leben in Pildau einem festen Takt, was für ein Kind, so sagt man, etwas Gutes ist. Mir war es aber egal, denn ich wusste ja nicht, dass es nicht der Takt der ganzen Welt war. Nach seiner Runde mit den Gutenmorgengeschichten trank mein Vater für gewöhnlich Zuckerkaffee in der Küche, die unter meinem Zimmer lag. Dann ging er die Schleie füttern und verschwand später in seinen Arbeitsräumen im alten Kuhstall, die sich hinter einer rostrot lackierten, niedrigen Tür mit Riegelschloss erstreckten, das der Großvater jeden Winter einmal zerlegte, um mir seine Funktion zu erklären. Das Füttern war eine der beiden externen Aufgaben meines Vaters, die er jenseits seiner Arbeitsscheune übernahm, für die meisten Dinge rund um das Haus war sonst der Großvater zuständig.
    Mein Geburtstag fällt auf den zehnten April, und dieser, an dem meine erste vollständige Erinnerung einsetzt, war ein sehr hellgrüner Tag kurz vor Ostern, an dem sich draußen alles so neu aufgetragen anfühlte, dass selbst mein Vater einen kurzen Augenblick lang auf der Türschwelle stehen blieb und einen Moment zerstreut über jene Begebenheit nachdachte, die die restliche Welt Frühling nannte. Ich trottete ihm im Schlafanzug nach, das Buch unter dem Oberteil an die Brust gedrückt, und sah zu, wie er gequollenen Mais oder Weizen ins dunkle Wasser des Weihers pladdern ließ. Die Schleie lebte im Löschweiher vor dem Haus und war nicht zu sehen, obwohl der Weiher klein war. Wie immer warteten wir zusammen eine ruhige Minute lang, ob etwas geschah, aber die Wasseroberfläche setzte ihren Belag aus Weidenpollen und Mückenschlupf schnell wieder über der Unruhe zusammen und verriet niemals etwas. Ich denke heute, nie war ich diesem unentwegt in Fußnoten denkenden Mann näher, der kurioserweise mein Vater geworden war, als beim gemeinsamen Warten auf die Schleie.
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