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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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danach erst konnte ich den Wind und die Wolken hören, die um unsere Stange zogen. So lernte ich früh die Zahlen bis achtzehn, ohne zu ahnen, dass der Achtzehn im Dezimalsystem keine große Aufgabe zufällt. »Wenn du groß bist, wirst du hier schon bis zwanzig zählen müssen«, sagte mein Vater an diesem Geburtstag zu mir, an dem oben im Himmel über uns nichts zu hören war als das laue Streichen der Höhenwinde.
    Wie weit die Stange hinaufreichte, das gehörte zu den wichtigsten Fragen auf dem Hof. Mein Vater hatte mehrmals versucht, mittels geometrischer Peilmessung im Abgleich mit den historischen Daten unserer Hofstange eine Länge zu bestimmen, während der Großvater früher mit seinen Steigeisen hinaufgeklettert war, um irgendwann einen Blick auf die Spitze zu haben und dann zu schätzen, in welcher Höhe sie sich befand. Die Steigeisen waren mir verboten, auch, sie nur an der Birke auszuprobieren. Der Großvater hatte sie nach dem Krieg einem Monteur abgekauft, der die Strommasten nach Pildau gebracht hatte, damit man sich an ihnen hinaufhangeln konnte. Die Technik brauchte Übung, die Hofstange musste dabei zwischen die Schenkel geklemmt werden, die Hände legten einen Lederriemen um den Stamm, und ich habe nur ein einziges Mal gesehen, wie er damit ein paar steile Meter hochkroch, um ein Spechtloch zu gipsen.
    Von seinen frühen Reisen die Stange hinauf aber kursierten die absonderlichsten Berichte, etwa der, wie er einmal so hoch gekommen war, dass ihm ein Eisbart im Gesicht wuchs und er freie Sicht bis zum Fujiyama hatte, der, wie man mir sagte, in Japan liegt. Als Kind war das meine liebste Großvater-Geschichte, und ich ließ sie mir ein ums andere Mal erzählen, wenn ich mit ihm Unkraut jätete, den Mais der Schleie zum Quelltrog schleppte oder Pilze zum Trocknen auslegte. Keine Herangehensweise der Opis aber hatte eine exakte Auskunft über die Höhe der Pildauer Stange geben können, denn das Ende hatte keiner der beiden gesehen.
    Etwas später als diese erste Erinnerung, ich muss so etwa acht Jahre alt gewesen sein, denn Lada war schon eine Weile bei uns, rief uns mein Vater eines Abends in seinen Arbeitsstall, was ein außerordentlich seltenes Ereignis war, und teilte uns im Schein einer Scherenlampe mit, wie er angesichts des gerade von ihm recherchierten Errichtungsjahres 1702 und bei einer angenommenen Verlängerung von fünf Meter pro Jahr zu der Überzeugung gekommen sei, die Stange auf eine Länge von mindestens eineinhalb Kilometer zu schätzen. Dass diese erste historische Hochrechnung Lücken hatte, gab er zu, weil sie jene Zeiten nicht berücksichtigte, in denen unsere Vorfahren in Pildau ausnahmsweise jeden Monat längten, um akute Notstände wie Dürre, Krankheiten oder Kriege abzuwenden, die sich in diesem Landstrich zahlreich ereignet hatten. Mein Großvater zeigte sich an diesem Abend wenig beeindruckt von der feierlichen Entdeckung. Die Geräusche, die man mit bloßem Ohr hören könne, sprächen für eine höhere Stange, sagte er, so höre er und jeder andere Mensch mit meteorologischem Verstand doch etwa deutlich das Schnarren der kleinen Zirruswolken, wenn sie an die Nadel stießen.
    Wie viele andere Hofstangen es noch gab, das wussten wir nicht, oder ich kann mich nicht erinnern, dass etwas dazu gesagt wurde. Von unserer Straßenaussicht sahen wir keine, aber es war doch unwahrscheinlich, dass unsere die letzte war. Der Großvater berichtete von einem Team des Schweizer Fernsehens, das vor geraumer Zeit schon auf den Hof gekommen war und das Längen gefilmt hatte. Schweizer haben einen Sinn für so was, sagte er. Die kleine Flugverbotszone, die mit Rücksicht auf die Eigenheiten der Region hier eingerichtet worden war, war jedenfalls weiterhin in Kraft. Kondensstreifen am Himmel hatten deswegen für mich als Kind einen außerordentlichen Nachrichtenwert. Noch heute weise ich gelegentlich darauf hin, was niemand verstehen kann, der nicht in einer Flugverbotszone aufgewachsen ist.
    Ich fand nichts daran, eine Hofstange zu haben. Es erschien mir so wenig zweifelhaft wie die Existenz unserer Haustür oder von Zuckerkaffee. In den ersten Jahren stellt man sich nicht vor etwas Seltsames und findet es seltsam, man lässt es sich mit Wonne gefallen.
     
    Mein sechster Geburtstag war kein Stangentag, deswegen ging der Vater nach dem Prüfen der Stange zur Arbeit, was bedeutete, dass er sich im Kuhstall einschloss. Ich begleitete ihn bis zur Tür, die ich gern mochte, nicht nur weil
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