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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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»Sie ist da«, sagte er in diesen Momenten gelegentlich, »in so einem kleinen Wasser verschwindet ja nichts.«
    Der Großvater Honigbrod hatte den Fisch gefangen, als er selbst noch jung war, in einem Altwasser, das es nicht mehr gibt. »Das Altwasser ist verlandet, und der Altopa wird bald verhimmelt sein«, so pflegte er bisweilen den Verlauf der Zeit festzustellen, wenn er unseren Klappkalender in der Küche einen Monat weiterdrehte, worauf mein Vater, der sonst ein weitgehend unaufmerksamer Mensch war, sich gezwungen sah, ein Geräusch zu machen, irgendeines, das die lange Sekunde nach einer großen Wahrheit auffüllte. Der Großvater hatte die Schleie lebend auf den Hof gebracht, in einem Fischkorb aus Holz, den er auf der Schulter tragen konnte, und sie dann in den Löschweiher gesetzt. Heute kommt es mir seltsam vor, dass nie jemand das Überleben der Schleie in Frage stellte, sondern alle wie selbstverständlich davon ausgingen, der Fisch wäre wie der Großvater in den letzten fünfzig Jahren nur etwas älter und langsamer geworden.
    Als Sechsjähriger fand ich es gut, einen unsichtbaren Fisch zu kennen, auch wenn ich mir gelegentlich wünschte, er wäre weniger unsichtbar, dann hätte ich vielleicht mit ihm spielen können. Das müsste, dachte ich an diesem Tag, am Bein meines Vaters zupfend, durchaus Inhalt einer allerersten Notiz im Tagebuch sein, sobald ich schreiben konnte. Bis es soweit war und weil in meiner Gutenmorgengeschichte auch ein vorwiegend unsichtbarer Dornhai vorkam, der immer dann befragt wurde, wenn die Menschen in Schwierigkeiten steckten, und der in letzter Minute die richtigen Antworten wusste, nahm ich die Geheimniskrämerei unserer Schleie als notwendiges Verhalten interessanter Fische hin.
    Nach dem Füttern kontrollierte mein Vater jeden Tag die Hofstange, das war seine zweite externe Aufgabe, die er sich aber mit dem Großvater teilte. In dieser Sache trauten Vater und Sohn einander nicht, und ich erinnere mich, dass abends oft unterschiedliche Expertisen zum Zustand des Stammes vorlagen, die beide Männer jeweils mit Überzeugung vertraten. Das Gestell der Stange schloss links an den Weiher an und lag damit mitten auf unserem Hof, zwischen Haus und Scheune. Als Kind erschien mir das Podest, auf das der Vater zum Prüfen steigen musste, sehr hoch, ich konnte noch lange Zeit aufrecht darunter hindurchmarschieren. Es ähnelte jenem Podest für Blaskapellen in Bierzelten, nur dass an jener Stelle, an der vielleicht ein Dirigent sitzen würde, die Stange eingelassen war. Bei uns stand sie in einer mächtigen Fassung aus rostenden Hebeln, Zahn- und Schwungrädern, die der Großvater gebaut hatte. Aus diesem geschmiedeten Korsett ragte die Hofstange mit ihrem gedunkelten Holz. Zu der Zeit, von der ich erzähle, hatte sie schon etwa den Durchmesser eines Lastwagenreifens.
     
    Vielleicht muss ich erklären, was eine Hofstange ist, auch wenn es in unserer Gegend jedes Kind weiß. Das Wichtigste: Eine Hofstange ist etwas sehr Altes und zu allen Zeiten der größte Stolz ihrer Besitzer. Früher hatte jeder große Hof hier eine, und das geht auf die Marienverehrung in dieser Gegend zurück. Im Mittelalter trugen die Gläubigen an bestimmten Tagen des Kirchenjahres Marienstangen um ihre Höfe und Dörfer und pflanzten sie nach der Prozession in der Mitte ihrer Siedlung in den Boden, wie einen Maibaum, nur dass die Marienstangen ganz dünn geschält und ungeschmückt waren und ihre Spitzen sich im Wind biegen mussten, erst dann war es recht. Ganz genau weiß man nicht, wie es kam, aber der Marienkult nahm über die Jahrhunderte immer trotzigere Züge an. Je mehr die Kirche davon abrückte, desto inniger warfen sich die Bauern hier hinein, und das Stangentragen wurde, glaubt man den wenigen Chronisten, zu einem Landfieber, mit immer längeren Stangen und immer mehr Verletzten, denn die getragenen Bäume waren kaum noch mit zwei Mann zu heben. Schließlich gab man die Prozessionen auf und beschränkte sich darauf, die Stange zu verlängern. Es wurde die heiligste Pflicht, sie dreimal im Jahr ein Stückchen weiter hin zur Muttergottes zu schieben, von der man in dieser Gegend annimmt, sie sitze im Himmel links vorn. Von jedem Meter, den ihr Hof und ihre Heimaterde mit der Stange näher nach oben rückten, versprachen sich die Bauern Segen für ihre Felder und Friede in Stall und Haus. Reiche Bauern ließen bald komplizierte Hebeanlagen konstruieren, die das Längen der Stangen vereinfachten und
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