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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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Breite brechen. Der Pfad führte quer hindurch, über niedrige Blaubeersträucher und vorbei an ein paar verwachsenen Trichtergruben, die je nach Erzähllaune der Opis von versehentlich fallen gelassenen Bomben rührten oder von einem alten Versuchsbergbau nach Kupfer oder aber von einem frühzeitlichen Gräberfeld. Ich fand alle drei Aussichten spannend und verbrachte Wochen damit, Beweise für die eine oder andere Theorie zu finden, was mir jeweils auch in Ansätzen gelang und was meinem Vater bei der feierlichen Präsentation eines oxidierten Steines oder einer Patronenhülse nie etwas anderes entlockte als: »Wenn du wirklich etwas gefunden hast, Jasper, geh los und erzähle den anderen davon.« Er pflegte ein großes Arsenal an Bemerkungen, die ich nicht ganz verstand.
    Bis zu den Gruben durfte ich allein, das war der weiteste Punkt vom Hof, die dünnen Eichen auf dem Gipfel des kleinen Berges waren mein Pol. Aber der Trampelpfad ging noch weiter, und wenn man ihm folgte, trat man bald auf der anderen Seite des Hügels aus dem dünnen Wald und hatte, weit unter sich, die Straße. Es gab nur die eine, wann immer wir von einer Straße sprachen, meinten wir diese, denn im Vergleich zu ihr war alles andere hier nur Weg. Die Straße war, glaubte man den Karten, eine Bundesstraße erster Ordnung, zweispurig mit tiefen Fahrrinnen. Sie war Tag und Nacht befahren und die größte Gefahr für ein freilaufendes, mutterloses Kind, das hatten die Opis von Beginn an so bestimmt, und es gab für mich keinen Grund, daran zu zweifeln. Alles, was mit der Straße zusammenhing, war mir allein verboten. Bei uns am Hof auf der anderen Seite des Hügels hörte man sie nur in den Nächten, wenn der Wind aus Norden kam, was aber selten war. Dann ließ er den dunklen Kanon der Motoren bis zu uns wehen, nie war da etwas einzeln, immer war es ein Chor, eine ewige Bewegung, es rollte von rechts nach links und von links nach rechts, beide Seiten waren ausgelastet. Gemeinsam mit den Opis durfte ich den Wald bis zu dieser Aussicht durchqueren, und dann saßen wir auf einer Bank aus Baumstämmen vor diesem Fluss, der zu jeder Jahreszeit und ohne eine wahrnehmbare Veränderung unter uns durchs Tal strömte.
    Der Großvater brachte mir da die Automarken bei, schon bevor ich ansatzweise sprechen konnte. Das ging:
Audi Gaudi, Opel Popel, BMW tutsoweh, Pöscho hoho, Citroën ich muss gehn
und so weiter, ein ganzes Alphabet, das ich viel früher beherrschte als das eigentliche, weil es lustiger war. Sein Unterricht für mich bestand auch darin, die Autos von oben den richtigen Marken zuzuordnen. Als wären es entfernte Tiere, die wir dabei beobachteten, wie sie aus der Ferne auf uns zurasten und unter uns vorbei, um bald wieder am Horizont zu verschwinden. Wir waren Zuschauer auf einer Rennbahn, in Sicherheit zwar, aber doch nah genug, um uns von der Geschwindigkeit kitzeln zu lassen. War der Großvater gut gelaunt, dirigierte er die Autos, winkte sie unter uns durch wie ein Lotse, während er mich ihre Marken riefen ließ. Zu meiner Genugtuung gehorchte ihm der Verkehr und hielt sich an die Anweisungen des tänzelnden Ludwig Honigbrod in seiner blauen Jacke. Ich habe keine Erinnerung an ihn, die ihn anders als gut gelaunt zeigen würde, alle Bilder, alle Momente aus allen Augenwinkeln, selbst alle Traumgesichter sind warme, hellbraune Großvaterfalten und frische Petersilie. Manchmal rief er mit einem Trichter aus seinen Händen »Vorsicht!« hinunter, wenn wir ein Überholmanöver beobachteten, oder auch nur: »Nicht jetzt, Mostschädel!« Ich durfte dann auch rufen, so laut ich konnte. Der Ingenieur in ihm wusste Modellnummern und meistens auch noch PS und Baujahr von allem, was unter uns rollte, erkannte die großen Speditionen, deren Lastwagen in schmutzigen Kolonnen fuhren, und manchmal sagte er sogar, was sie geladen hatten. Er war so lange hier, dass jedes Auto schon mal vorbeigefahren war. »Du musst nur Geduld haben, irgendwann kommt alles zu dir, wenn du an einer großen Straße wohnst«, sagte er auf dem Rückweg durch den Wald.
    Es war unser Abschnitt, den wir von der Bank aus überblickten, so nannten es die Opis, unser Abschnitt, was mir einleuchtete, schließlich thronten wir hier oben, und mein Großvater bewachte und dirigierte das Treiben da unten. Wenn wir da wie die Grafen am Waldrand saßen und Haselnüsse mit den Zähnen knackten, war ich sicher, dass es hinter den anderen Hügeln ähnliche Bänke mit ähnlichen Großvätern,
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