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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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Weil ich auf der Bank ausgestreckt lag, sah ich zunächst nichts als die Pfeifentasche und die Tabakdose auf der Tischkante über mir. Hörte nur. Geräusche, die aus der Kehle meines Vaters kamen. Sie waren genug, um mich einzufrieren. Mein Vater gurgelte, er war aber noch gar nicht in der Küche, noch nicht mal im Haus, trotzdem habe ich nie mehr so etwas Nahes von ihm gehört. Er gurgelte erstickend nach dem Großvater, und es klang bis in mein Eis hinein wie: Papa. Die Tür hörte ich dann und wie das Gemurmel des Großvaters verstummte, und für einen Moment war da nur das liebe Knastern des Ofens. Das kannte ich wieder, in seiner vertrauten Stille setzte ich mich auf. Der Anblick, der sich mir bot, kommt mir bis heute vor wie ein Gemälde, ich kann mich davor hinstellen, darin herumgehen und jede Einzelheit benennen. Mein Vater im Unterhemd, ohne Kopfleuchte und Mütze, auch ohne Brille, worauf ich es schiebe, dass mir seine Augen so groß vorkamen. Er kniete auf unserem Fußabstreifer. Der Großvater, nur halb in seinem blauen Arbeitsjanker, war über ihn gebeugt, auf die gleiche Art, wie er sich im Garten über den Mangold beugte. Zwischen beiden war etwas Drittes. Ein Geruch, vielleicht. Etwas Scharfes wie Pisse, aber auch von Erde und den angelaufenen Patronenhülsen im Wald. Dann erst sah ich, dass dem Vater der Bart fehlte, stattdessen war sein Gesicht wie ein Acker am letzten Tag des Winters. Die Tür stand offen, und die Hoflampe streute einen Kegel in die feuchte Luft. Das war das Gemälde.
     
    Von da ging es sehr schnell oder sehr langsam weiter, das kommt darauf an, von welcher Seite ich darüber nachdenke. Das Wichtigste war, dass mein Vater mit diesem fürchterlichen Gurgeln aufhörte. Der Großvater hatte ihm die blaue Jacke übergelegt, sie kamen zum Tisch, an dem ich regungslos hinter dem dänischen Tabak saß. Niemand sah mich da. Der Geruch war überall. Ich fand ihn viel seltsamer als das, was der Großvater vorsichtig auf unseren Tisch legte. Das war nur ein Kind.
    Aber wieso diese beißende Luft? Woher roch es so? Es sollte bei uns doch riechen wie immer. Ich lief zur Tür, um sie zu schließen. Es konnte doch nur von draußen kommen. Zurück am Tisch, war es aber noch schlimmer, also rannte ich wieder zurück und stieß die Tür weit auf. Das war andere Luft, weiche, kalte Nebelluft. Sie war so sanft und nachgiebig, dass ich sofort anfing zu heulen. Wie lange ich dann auf der Haustreppe saß, weiß ich nicht mehr. Was ich wieder vor Augen habe, ist wie der Großvater mich später holte, nichts sprach dabei, sondern mich einfach auflas wie einen Apfel und hineintrug. Alle Lichter der Küche brannten. Es roch jetzt zwischen den fremden Dingen auch wieder nach frischem Zuckerkaffee. Der Vater saß auf der Bank, auf der ich vorher geschlafen hatte, und neben ihm, in die braune Kratzdecke eingewickelt, lag das neue Kind. Der Großvater setzte mich daneben. Es war wenig Platz, viel weniger als sonst. Ich besah meinen Vater genauer, ohne Brille und mit dem zerrissenen Bart. Wir müssen ihn wieder hinkriegen, bevor die Lene-Mama das nächste Mal kommt, denn so wird sie ihn zweifellos zu komisch finden. Das war mein einziger, großer Gedanke. Er sah mich ganz ungerahmt an, das war nicht der Kardinalsblick, das kam von woanders. Nach einer Zeit sagte er: »Du hast, wie es scheint, doch noch ein Geschenk bekommen.«
    Erst da fiel mir auf, dass alle die ganze Zeit auf das große Bündel starrten, der ganze Raum schien sich um diese neue Mitte gekrümmt zu haben. Das Neue und der Geruch, dort kam es her. Wo die Decke aufging, waren ein kleiner Kopf und Haare und Wellen. Sehr viele Wellen, die quer über Mund und Nase lagen. Erst mal keine Augen.
    Wir drei sahen hinein, und ich merkte, wie meine Füße wieder warm wurden. Am Ende nahm der Großvater das Paket sehr vorsichtig und brachte es nach oben, gefolgt von meinem Vater und mir. Wenn ich heute daran denke, dann war diese kleine, wiegende Prozession über die kurze Treppe ein Moment, in dem ich alles genau erkannte. Ich sah, in welche Richtung die Zeit lief und was das Leben war, sah drei Männer mit gleichem Nachnamen, sah das dunkle Haus mit der beleuchteten Küche in weiter Nacht, ich sah das Atmen der Glut, wenn man die Ofentür öffnete, alles war ganz wach und gleichzeitig, und nichts war vergessen. Ich hatte bis heute vielleicht eine Handvoll solcher Momente, und die meisten hatten mit dem kleinen Paket in der Kratzdecke zu tun.
     
    Die
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