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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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Opis legten es in mein Bett. Niemand hatte daran gedacht, Licht zu machen, es gab nur das bisschen, das die Hoflampe bis in den ersten Stock ließ. Das Deckenbündel grub sich ein wenig in die Ecke des Bettes, drehte sich, blieb aber halb in der Bewegung liegen. Danach winziges Durcheinander aus Atemzügen und Schluchzen, dann nur noch Atemzüge.
    Später hatten sich die Erwachsenen aus dem Zimmer geschlichen, und ich stand allein vor dem neuen Kind. Es roch immer noch so. Niemand hatte mir gesagt, wo ich schlafen sollte, niemand hatte mich gewaschen. Ich schlüpfte in mein Bett, vorsichtig, um die Kratzdecke nicht zu berühren. Es war warm, von dem Deckenknoten kam eine Hitze, wie ich sie noch nie an einem Menschen gespürt hatte. Die Hände und Arme der Opis waren fest und kühl, das hier aber war anders, unfertig. Ich lockerte die Decke ein wenig, um ihm ein bisschen Luft zu geben. Die Wellenhaare klebten an den Schläfen, sie waren rot, und darunter war ein Gesicht, weiß wie die Birke, an der ich meine Mutproben hielt. Das alles hatte ich noch nie gesehen. Die Lene-Mama hatte auch mal rote Haare gehabt, aber das hier war ganz anders, es strahlte wie gerade erst gewachsen.
    Ich schlief nicht, ich lag neben dem kleinen Gesicht und schob mich nach einer Ewigkeit etwas näher. Dann wieder eine Ewigkeit, dann wieder etwas näher. Am Ende berührte ich fast diese Wangen, auf denen winzige Schmutztropfen eingetrocknet waren, eine verklebte Strähne ragte so, dass meine Wimpern sie beim Blinzeln streiften, eine Berührung von zwei Außenposten. Ich blinzelte sehr oft in dieser Nacht und schrieb nichts in mein Tagebuch.
     
    Wenn ich heute an die erste Nacht denke, die Lada und ich zusammen verbrachten, erstaunt mich eigentlich die Vertrautheit, mit der nach der ersten Verwunderung alle in Pildau damit umgingen, mich eingeschlossen. Es war, als wäre ein lange erwartetes Ereignis endlich eingetreten, von dem man gewusst hatte, dass es irgendwann geschieht, nur eben nicht genau, wann. Bis zum Morgen lag ich zentimeternah an dem neuen Gesicht, und nichts daran erschreckte mich. Ich wartete darauf, dass jemand kam und mir mitteilte, dass ich von nun an immer neben dem Kind schlafen müsste, und ich freute mich darauf. Es kam aber nur mein Vater, früher als sonst, mit einer Sonderausgabe der Gutenmorgengeschichte. Er sah aus, als hätte er auch nicht geschlafen, vielleicht war das aber auch nur sein anderes Gesicht. Bei Tageslicht erkannte ich, dass seine Barthaare an manchen Stellen noch lang waren, während sie an anderen ganz fehlten, genau wie Wimpern und Augenbrauen. Deswegen waren mir in der Nacht seine Augen so groß vorgekommen, auf dem Kopf trug er wieder die kleine Mütze.
    Die Geschichte, die er mir an diesem Morgen erzählte, handelte nicht, wie ich es erwartet hatte, von der Ankunft eines neuen Kindes für den Großwesir, sondern von einem unheimlichen Haus, das der Reiseritter Robert auf einem seiner Spaziergänge (er ging recht oft spazieren) entdeckte. Niemand wohnte darin, aber alles war noch so, als wären die Bewohner gerade erst hinausgegangen. Obschon eines der auffälligsten Talente des Reiseritters Robert seine Ängstlichkeit war, ging er hinein und fand im letzten Zimmer des Hauses einen Schatz. Woraus dieser Schatz bestand, wurde nicht weiter ausgeführt, Max Honigbrod sagte nur: »Ein sehr schöner Schatz.« So schön, dass der Reiseritter ihn mitnehmen wollte, sich aber nicht traute. Den restlichen Tag war er zerstreut, weil er immer an den Schatz denken musste, und es passierten ihm lauter Sachen, er zog statt einer Mütze einen Schuh an, solche Dinge. Am zweiten Tag ging er wieder in das einsame Haus, der Wind hatte ein Fenster aufgestoßen, Laub war in den Zimmern. Wieder stand er vor dem Schatz im letzten Zimmer, wieder ließ er ihn, wo er war. Ich erinnere mich, dass ich diese Entwicklung ungewöhnlich gruselig fand, ich weiß nicht mehr genau, warum. Jedenfalls war sie deutlich düsterer als die sonstigen Gutenmorgengeschichten. Während mein Vater dies erzählte, gab ich dem Bündel neben mir Knuffe. Das rote Wellenkind sollte aufwachen und die Geschichte nicht verpassen, auch wenn es darin offenbar noch nicht vorkam. Irgendwann gingen die Lider auf, darunter sehr hellblaue kleine Augen, die mich ansahen. Dann bemerkte es die dunkle Stimme, wandte den Kopf danach und begann zu heulen. Das war mir unangenehm, wegen den Knuffen, die ich vorher verteilt hatte. Mein Vater stoppte irritiert,
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