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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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kleiner Nebel, etwa kniehoch, den ich nicht kommen gesehen hatte. Der Himmel war dichter, heller Treibsand. Der Großvater nickte, stand auf und klopfte sich die Hose ab, zusammen gingen wir ins Haus, in dem kein Licht brannte, weil mein Vater noch im Stall war. Er setzte Wasser für neuen Zuckerkaffee auf, stapelte das Holz für den Abend neben dem Küchenofen zu einer kleinen Mauer und begann zu kochen. Das gehörte zu den Ämtern, die er übernommen hatte, weil sonst niemand dafür da war. Wenn die Lene-Mama am Herd stand, sah die Küche ganz anders aus, dann gab es gleich abgedeckte Schüsseln, Kräuter in alten Flaschen, alles hatte eine Decke und einen Teller, und es gab kein bisschen Mangold. Wenn wir unter uns waren, war Kochen eine Übung in Wenigkeit, und ich vermute heute, weil keiner abspülen wollte, gab es meistens Eintopf. Der Frühling war dabei unsere schlechteste Zeit. Der Garten lieferte noch nichts, und was vom Winter übrig war, waren verkrüppelte Kartoffeln und winzige gelbe Rüben, die im Sand, in dem sie der Großvater überwinterte, allen Saft verloren hatten und auf eine Karikatur ihrer selbst geschrumpft waren.
    Weil ich Geburtstag hatte, gab es an diesem Abend immerhin Brotsuppe. Das war Brühe, in die wir bei Tisch geschmalzte Zwiebeln und geröstete Brotwürfel gaben. Als die Zwiebeln schmorten, öffnete sich die Tür des Kuhstalls, und mein Vater steckte den Kopf herein, schnupperte, sagte aber nichts, sondern setzte sich zufrieden an den Tisch, wo er seinen Blick erst nachlässig über die Einrichtung wandern ließ, als wäre er bei entfernten Bekannten eingeladen, um ihn schließlich etwas länger auf mir abzulegen. »Ach ja, Geburtstag«, waren die ersten Worte seines Feierabends. Ich nickte ergeben und legte das leere Tagebuch als Erinnerungshilfe für ihn auf den Tisch. Das funktionierte, er holte Luft, maß mich wohlwollend und erklärte beiläufig: »Jaja, ein großer Tag für die Menschheit, ab heute führt der sechsjährige Jasper Honigbrod Tagebuch, und nicht nur das, er führt es, wie man sieht, auch ständig mit sich. Er hat ganz offensichtlich das Tragebuch erfunden.« Zufrieden horchte er diesem Grußwort nach, dann sprach er von etwas anderem.
    Ich denke heute, dass er eigentlich mehr als wir anderen unter den beschränkten gesellschaftlichen Möglichkeiten auf dem Hof litt. Er war von früher Hörsäle und Rednerpulte gewohnt, in unserer niedrigen Küche konnte er sich nie entscheiden, wen von uns beiden er ansprechen sollte, es war eine kümmerliche Auswahl. Deswegen sprach er die meiste Zeit wie bei der Gutenmorgengeschichte halbhoch in den Raum. Der Großvater und ich waren angehalten, uns aus diesen losen Wortwolken zu bedienen oder es bleiben zu lassen. Die Erzählfreude des Vaters war stets an ihrem Zenit, wenn er aus seinem Bücherstall auftauchte, und sie erschöpfte sich bis zum Morgen fast vollständig. Es war, als hätte sein Gehirn Ebbe und Flut, und beim Abendessen war Flut, sie brandete ohne Hindernisse in unsere Küche. An diesem Tag war aber wie alle drei Tage ein Lauftag, deswegen brach der Vater nach dem Essen noch mal auf. »Ein Mann muss jederzeit drei englische Meilen laufen können, egal in welchem Alter und zu welchen Bedingungen!«, war der Satz dazu. Er zog einen alten blauen Trainingsanzug an, setzte sich eine kleine Mütze ganz oben auf die hohe Stirn und im Winterhalbjahr noch eine Kopflampe. So trabte er wortlos vom Hof und kehrte für gewöhnlich nach einer Stunde zurück. Einer Stunde, in der der Großvater und ich den Abwasch so oberflächlich wie möglich erledigten und uns danach in Ermangelung anderer Vergnügen wieder an den Küchentisch setzten. Der Großvater rauchte Pfeife. Das Putzen und Stopfen, die Auswahl der richtigen Pfeife, die aktuelle Zusammensetzung der dänischen Tabakmischung, die er sich mit der Post kommen ließ, nahmen dabei die meiste Zeit in Anspruch. Ich drehte aus den Pfeifenreinigern Figuren, stapelte die Filter und schlief irgendwann auf der warmen Küchenbank ein. Von dort trugen mich die Opis später eine Treppe höher, zogen mich aus, fuhren mir mit einem nassen Waschlappen noch übers Gesicht, und mit diesem unsanften Ereignis endeten für gewöhnlich meine Tage. Auch an diesem sechsten Geburtstag, an dem die Nebel eng um unsere Hofstelle standen und ich vom Küchenfenster nicht bis zur Stange sehen konnte, schlief ich auf der kratzbraunen Decke ein.
     
    Ich erwachte vom Poltern eines umgefallenen Stuhls.
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