Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
Vom Netzwerk:
sann dem neuen Ton in unserem Haus einen Moment lang nach, aber dann fuhr er ruhig fort, das Heulen wurde weniger. Die Geschichte war inzwischen am dritten Tag angekommen, an dem ein Baum auf das einsame Häuschen gefallen war und ein Loch ins Dach geschlagen hatte, direkt über dem Zimmer mit dem Schatz. Diesmal packte der Reiseritter Robert ihn ein und trug ihn unter Mühen nach Hause. Ich muss vielleicht dazu erwähnen, er wohnte zu dieser Zeit der Erzählung mit dem Großwesir in einer Windmühle, deren Rad so fürchterlich quietschte, dass beide nachts in der Küche sehr lustige Gegenkonzerte veranstalten mussten. Dorthin also trug der Reiseritter im dottergelben Pyjama seinen Schatz und hatte Angst, der Großwesir würde schimpfen (das tat er manchmal). Aber der ließ sich nichts anmerken. In dieser Nacht, in der sie den Schatz im Haus hatten, quietschte das Rad der Mühle nicht mehr, und auch die anderen Nächte konnten sie wieder schlafen.
    Ich weiß noch genau, dass ich diese Entwicklung bedauerte, weil es nun keine Notwendigkeit mehr für die Küchenkonzerte gab, aber mein Vater ließ die Wendungen nicht diskutieren, und so blieb es dabei.
     
    Wenn man nun annimmt, dass dieser Tag und auch die folgenden durch das Ereignis in Unordnung gerieten, dann habe ich die beiden Männer, die meine Vorfahren sind, noch nicht gründlich genug erklärt. Der Großvater, der sein Leben lang als Ingenieur gedacht und geatmet hatte, war ein Mensch, der sehr ordentlich mit seinen Gefühlen umging. Er war immer gleich, seine Stimmung schien so wenig Schwankungen zu unterliegen wie sein Tagesablauf, nichts konnte seine freundliche Ruhe stören, nicht die Reden meines Vaters am Abend, nicht wenn ich von der Birke sprang, nicht das Altwerden. Es war wie auf der Anhöhe über der Straße, alles, was durchkam, hatte er schon gesehen und begriffen, und nichts, was geschah, konnte daran noch etwas ändern. Er sprach insgesamt so wenig, dass ich mich an seinen Klang nicht erinnern kann, nur an die Art, wie sich bei
Audi Gaudi
sein Mund bewegte, oder an das angestrengte Atmen, wenn er den Mangold erntete und dabei versuchte, nur die äußeren Blätter zu erwischen und das zarte Innere noch stehen zu lassen. Bis auf diese Schnittkanten hinterließ er überhaupt wenig Hartes in der Welt, keine Geräusche, keine Spuren, die Ordnung in seinem Zimmer war so endgültig, dass ich bis heute jedes Stück an seinen Platz legen könnte. Nie sah ich ihn mit einem Buch, das Einzige, was er las, waren die Gemeindeheftchen, die manchmal in unserem Briefkasten lagen und die er sofort in den Ofen schob, wenn er die letzte Seite gelesen hatte. Oder alte Konstruktionspläne und Gebrauchsanweisungen, die auf einem großen Stapel in seinem Zimmer lagen. Das wären sehr gute Pläne, hatte er einmal gesagt, und es wäre eine Erbauung, sie zu lesen und Seite für Seite diese Maschinen zusammenzubauen, obwohl man eigentlich auf einer Bank vor dem Haus saß.
    Der Großvater lebte in seiner Ordnung und zwischen seinem Mangold, mein Vater in seiner Bibliothek im Stall. Dorthin zog er einmal täglich wie in eine bessere Gesellschaft um, in einen Zirkel, den er sich in den Jahren selbst eingeladen hatte und der ihm niemals laut widersprach. Er hatte angeblich schon mit achtzehn Jahren so viele Bücher in seinem Besitz, dass er bis an sein Lebensende zu lesen haben würde, selbst bei einer sehr großzügig bemessenen Lesegeschwindigkeit. Seine liebsten Autoren waren solche, von denen er wusste, dass sie mit ihren Bibliotheken auf eine ähnliche Art verwachsen gewesen waren wie er. »Nur auf diese Art können wir heute annähernd noch etwas wirklich wissen, Jasper. Nur wenn wir in den Büchern der Menschen lesen, die selber erst all ihre Bücher gelesen haben, verstehst du, das ist eine ganz einfache Form des Intelligenzdestillats. Ich muss, und bin immerdar dankbar dafür, nicht alles lesen, was Blaise Pascale oder Aldous Huxley gelesen haben. Es reichen die Sachen von ihnen, verstehst du?«
    »Schreibst du dann auch ein Buch, in dem alles steht, was du gelesen hast?«
    »Das bin ich der Nachwelt freilich schuldig«, sagte mein Vater festlich, »allerdings ist es noch lange nicht so weit.«
    Ich bezweifle heute, dass es für das, was in jener Nacht passiert war, konkrete Anleitung in einem seiner Bücher gegeben hatte, aber wie immer in schlecht dokumentierten Grenzfällen handelte mein Vater einfach darüber hinweg. Er schüttelte Zweifel ab oder besser gesagt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher