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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche
Autoren: Alan Bradley
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du, worum es geht?«, fragte sie mit einer Stimme, die so gar nicht die ihre war. »Bei dem Film, meine ich.«
    Vater drehte sich nicht um. »Vermutlich ist es eine dieser schauderhaften Landhausschmonzetten. Ich habe nicht näher nachgefragt.«
    »Machen irgendwelche bekannten Schauspieler mit?«
    »Ich kannte jedenfalls keinen«, sagte Vater. »Der Vermittler hat andauernd den Namen Wyvern erwähnt, aber der hat mir auch nichts gesagt.«
    »Wyvern?« Daffy war sofort hellwach. »Etwa Phyllis Wyvern?«
    »Stimmt, so hieß sie.«Vater klang ein kleines bisschen munterer. »Phyllis. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor. So heißt nämlich auch die Vorsitzende der Philatelistischen Gesellschaft in Hampshire. Nur dass sie Phyllis Bramble heißt«, setzte er hinzu, »nicht Wyvern.«
    »Phyllis Wyvern ist der berühmteste Filmstar der Welt«, sagte Feely völlig baff. »Der ganzen Galaxis!«
    »Des ganzen Universums«, fügte Daffy völlig ernsthaft hinzu. »Die Bahnwärtertochter  – da hat sie Minah Kilgore gespielt, weiß du noch? Anna aus der Steppe … Liebe und Blut  … Bereit zu sterben … Der geheime Sommer. Sie sollte sogar die Scarlett O’Hara in Vom Winde verweht spielen, hat sich aber vor den Probeaufnahmen an einem Pfirsich verschluckt und brachte kein Wort heraus.«
    Daffy war stets über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Filmwelt informiert, weil sie die entsprechenden Zeitschriften im Dorfladen nach der Schnelllesemethode überflog.
    »Und Phyllis Wyvern kommt zu uns nach Buckshaw?«, fragte Feely. »Phyllis Wyvern?«
    Vater zuckte nur matt die Schultern und blickte wieder mit düsterer Miene aus dem Fenster.
     
    Ich rannte die Osttreppe hinunter. Im Salon war alles dunkel. Als ich in die Küche kam, blickten Daffy und Feely mit säuerlichen Mienen von ihren Haferbreischüsseln auf.
    »Ach, da bist du ja, Schatz«, sagte Mrs Mullet. »Eben grade haben wir überlegt, ob wir einen Suchtrupp nach dir losschicken sollen. Jetzt ist aber höchste Eisenbahn. Diese Filmfritzen sind bestimmt hier, ehe du ›Alec Guinness‹ sagen kannst.«
    Ich schlang mein Frühstück in mich hinein (klumpiger Haferbrei und angebrannter Toast mit Zitronenaufstrich) und wollte eben wieder abhauen, als die Küchentür aufging und Dogger zusammen mit einem Schwall kalter Luft hereinkam.
    »Guten Morgen, Dogger«, sagte ich. »Suchen wir heute den Baum aus?«
    Seit ich denken kann, war es für meine Schwestern und mich Brauch gewesen, Dogger in der Woche vor Weihnachten in den Wald von Buckshaw zu begleiten, wo wir diesen und jenen Baum begutachteten, einen jeden hinsichtlich seiner Größe, Gestalt, Dichte und des allgemeinen Erscheinungsbildes beurteilten, ehe wir uns schließlich für den Gewinner entschieden.
    Am folgenden Morgen tauchte der auserwählte Baum dann wie durch Zauberhand im Salon auf, wo er in einem Kohleneimer stand und darauf wartete, dass wir uns ihm widmeten. Mit Ausnahme von Vater verbrachten wir den Tag in einem wahren Wirbelsturm aus uraltem Lametta, silbernen und goldenen Girlanden, bunten Glaskugeln und kleinen Engeln, die Papptrompeten bliesen, und hielten uns so lange es ging damit auf, bis am späten Nachmittag das Werk leider vollbracht war.
    Weil es der einzige Tag im Jahr war, an dem meine Schwestern ein bisschen weniger fies zu mir waren als sonst, freute ich mich unverhohlen darauf. Einen Tag lang – oder zumindest ein paar Stunden – waren wir ausgesucht freundlich zueinander, scherzten, und manchmal lachten wir sogar miteinander, als wären wir eine jener armen, aber fröhlichen Familien bei Charles Dickens.
    Ich lächelte Dogger in froher Erwartung zu.
    »Leider nicht, Miss Flavia«, antwortete Dogger. »Der Colonel hat beschlossen, dass im Haus alles so bleibt, wie es ist. So wünschen es die Filmleute.«
    »Wen kümmern schon die blöden Filmleute!«, rief ich, vielleicht ein wenig zu laut. »Die können uns doch nicht einfach unser Weihnachten vermiesen!«
    Aber ich las sofort in Doggers Gesicht, dass sie das sehr wohl konnten.
    »Ich stelle einen kleinen Baum ins Gewächshaus«, sagte er. »In der kühlen Luft dort hält er auch viel länger.«
    »Das ist nicht dasselbe!«, maulte ich.
    »Stimmt«, pflichtete Dogger mir bei, »aber auf diese Weise haben wir wenigstens unser Möglichstes getan.«
    Noch ehe mir eine Erwiderung einfiel, kam Vater in die Küche, musterte uns finster, als wäre er ein Bankdirektor und wir eine Bande rebellischer Kontoinhaber, denen es gelungen
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