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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche
Autoren: Alan Bradley
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letztes Jahr allen Ernstes behauptet. »Er ist ein Märchen, mehr nicht, ich schwör’s. Schließlich bin ich älter als du und kenne mich mit so was aus.«
    Ob ich ihr glaubte? Ich war mir nicht ganz sicher … Als ich wieder in meinem Zimmer war und darüber nachdenken konnte, ohne gleich loszuheulen, hatte ich das Problem mit meinen ausgeprägten detektivischen Fähigkeiten beleuchtet und war zu dem Schluss gekommen, dass meine Schwestern gelogen hatten. Wer sollte denn sonst meine Laborgläser gebracht haben, bitte schön?
    Außer dem Weihnachtsmann kamen nur fünf Kandidaten infrage. Mein Vater, Colonel Haviland de Luce, war völlig verarmt und fiel daher aus, genauso meine Mutter Harriet, die beim Bergsteigen umgekommen war, als ich noch in den Windeln lag.
    Dogger, Vaters Faktotum also das Mädchen für alles – verfügte schlicht und ergreifend nicht über die seelischen, körperlichen und auch finanziellen Mittel, um heimlich und bei Nacht großzügige Geschenke durch ein zugiges, verfallendes Landhaus zu schleppen. Dogger war im Fernen Osten Kriegsgefangener gewesen und hatte dort so Furchtbares durchgemacht, dass sein Verstand noch immer wie mit einem unsichtbaren Gummiband mit jenen Erlebnissen verbunden war – einem Band, an dem das unbarmherzige Schicksal ab und zu zerrte, und das üblicherweise immer im unpassendsten Augenblick.
    »Er hat dort Ratten essen müssen!«, hatte mir Mrs Mullet einmal in der Küche erzählt. »Stell dir das mal vor – Ratten! Sie mussten sie braten!«
    Da alle Angehörigen unseres Haushalts aus dem einen oder anderen Grund als Geschenkebringer disqualifiziert waren, blieb nur noch der Weihnachtsmann übrig.
    Schon in einer Woche würde er wiederkommen, und um die leidige Frage ein für alle Mal zu klären, hatte ich schon seit geraumer Zeit einen Plan geschmiedet. Ich würde ihm eine Falle stellen.
    Und zwar eine streng wissenschaftliche.
     
    Wie einem jeder erfahrene Chemiker sagen kann, lässt sich Vogelleim ganz einfach herstellen, indem man die Mittelrinde der Stechpalme acht, neun Stunden lang kocht, sie für zwei Wochen unter einem Stein vergräbt, dann wieder ausbuddelt und in fließendem Flusswasser wäscht. Anschließend zermahlt man sie und lässt sie gären. Das Mittel wurde jahrhundertelang von Vogelfängern benutzt, die es auf Äste schmierten, um die Singvögel zu fangen, die sie anschließend in den Städten verkauften.
    Der große Sir Francis Galton hat in seinem Buch Die Kunst des Reisens oder Nützliche Kniffe und Hinweise für unzivilisierte Länder , von dem ich ein signiertes Exemplar in einer mit wirren Unterstreichungen versehenen Gesamtausgabe seiner Werke in Onkel Tars Bibliothek entdeckt hatte, eine Methode zur Herstellung ebenjenes Klebstoffs beschrieben. Ich hatte Sir Francis’ Anweisungen buchstabengetreu befolgt, hatte im Hochsommer mehrere Armvoll Stechpalmen aus dem Eichenwäldchen im Gibbet Wood nach Hause geschleppt und die klein gebrochenen Zweige über dem Laborbunsenbrenner in einem Schmortopf gekocht, den ich mir – allerdings ohne ihr Wissen – von Mrs Mullet ausgeborgt hatte. Zum Schluss hatte ich noch ein paar selbst erfundene chemische Finessen angewandt, um das pulverisierte Harz hundertmal klebriger als im Originalrezept zu machen. Nach nunmehr einem halben Jahr Vorbereitung war meine Paste inzwischen so klebrig, dass sie einen ausgewachsenen Gorilla mitten im Lauf ausgebremst hätte, und der Weihnachtsmann – falls es ihn wirklich gab – durfte eigentlich nicht die geringste Chance haben. Falls der muntere alte Herr nicht zufällig einer Flasche Diethylether O(C 2 H 5 )2 dabeihatte, mit dem er den Vogelleim lösen konnte, würde er bis in alle Ewigkeit in unserem Kamin stecken bleiben – oder bis ich mich seiner erbarmte und ihn daraus befreite.
    Der Plan war einfach genial. Wieso war noch niemand auf diese Idee gekommen?
    Ein Blick durch den Vorhangspalt verriet mir, dass es in der Nacht geschneit hatte. Auch jetzt wirbelte der Nordwind noch weiße Flocken durch den Lichtschein aus der Küche im Erdgeschoss.
    Wer mochte zu einer so unchristlichen Zeit schon auf den Beinen sein? Mrs Mullet kam erst später, und zwar zu Fuß von Bishop’s Lacey nach Buckshaw.
    Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
    Heute war der Tag, an dem die Eindringlinge aus London eintreffen sollten. Wie konnte ich das vergessen haben!
    Vor über einem Monat – am 11. November, um genau zu sein, jenem grauen, trüben
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