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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche
Autoren: Alan Bradley
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    N asskalte Nebelranken erhoben sich vom Eis wie gepeinigte Seelen, die ihre leibliche Hülle verließen. Die kalte Luft hatte sich in einen trüben, wabernden Dunst verwandelt.
    Ich sauste in dem langen Korridor auf und ab, und das Kratzen meiner silbernen Schlittschuhkufen klang wie das trostlose Geräusch, das entsteht, wenn ein Metzger hingebungsvoll seine Messer schleift. Unter der Eisschicht war das komplizierte Muster des Holzparketts noch deutlich zu erkennen, wenn auch seine Farben durch die Beugung des Lichts zugegebenermaßen ein wenig stumpf wirkten.
    Die zwölf Kerzen über mir, die ich aus der Anrichtekammer gemopst und in die uralten Kronleuchter gesteckt hatte, flackerten wie irre im Luftzug, wenn ich unter ihnen entlangschoss. Auf und ab fuhr ich, hin und her und rundherum. Ich atmete die beißend kalte Luft tief ein und stieß sie als kleine silbrige Wölkchen wieder aus.
    Als ich schließlich mit harschem Kratzen zum Stehen kam, spritzten kleine Eisbröckchen wie eine sich brechende Welle aus winzigen, bunten Diamanten auf.
     
    Die Bildergalerie zu fluten war nicht besonders schwer gewesen: Man musste lediglich von der Terrasse her einen Gummischlauch durch das Fenster schlängeln und das Wasser die ganze Nacht über laufen lassen – und natürlich bedurfte es dieser erbarmungslosen Kälte, die das Land nun schon seit vierzehn Tagen in ihrem eisigen Griff hielt.
    Da ohnehin nie jemand den unbeheizten Ostflügel von Buckshaw aufsuchte, würde auch niemand meine improvisierte Eisbahn entdecken; jedenfalls nicht bis zum Frühling, wenn die ganze Pracht wieder schmolz. Niemand, bis auf meine in Öl gemalten Vorfahren vielleicht, die in Reih und Glied an den Wänden hingen und mein Treiben aus ihren schweren Bilderrahmen heraus mit frostigen Blicken missbilligten.
    Ich streckte ihnen die Zunge heraus, wobei ich ein unanständiges Geräusch machte, und glitt erneut in den kalten Dunst hinein, wobei ich mich wie eine Eisschnellläuferin weit vorbeugte und mit dem rechten Arm in der Luft herumfuchtelte. Meine Zöpfe flatterten wild, und die linke Hand hatte ich so lässig auf den Rücken gelegt, als befände ich mich auf einem Sonntagsspaziergang durch unsere herrliche Natur.
    Wie schön wäre es doch, dachte ich, wenn jetzt ein Modefotograf wie zum Beispiel Cecil Beaton zufällig mit seiner Kamera vorbeikäme und diesen Augenblick für die Nachwelt festhielte.
    »Mach einfach weiter, Mädel«, würde er sagen. »Verhalte dich ganz natürlich, als wäre ich gar nicht da.« Und schon würde ich wieder wie der Wind durch unsere endlos lange, holzgetäfelte Ahnengalerie sausen, und ab und zu würde das diskrete Knallen einer Blitzlichtbirne meine Bewegungen für die Ewigkeit konservieren.
    Ein, zwei Wochen danach würde ich dann auf den Seiten von Country Life oder der Londoner Illustrierten Nachrichten erscheinen, mitten im schwungvollen Lauf, in einer entschlossenen und zugleich unfassbar anmutigen Bewegung erstarrt.
    »Bezaubernd – betörend – de Luce « würde die Bildunterschrift lauten. »Elfjährige Eisläuferin ist bewegte Poesie. «
    »Herr im Himmel!«, würde es Vater entfahren. »Das ist ja Flavia!«
    »Ophelia! Daphne!«, würde Vater rufen, mit der Zeitschrift wie mit einer Fahne wedeln und dann noch einmal einen Blick darauf werfen, um sich zu vergewissern. »Kommt schnell her! Das ist Flavia – eure Schwester.«
    Bei dem Gedanken an meine Schwestern stöhnte ich laut. Bis dahin hatte mir die Kälte nicht allzu viel ausgemacht, jetzt aber packte sie mich plötzlich mit der Wucht eines atlantischen Sturmwindes – die bittere, beißende, lähmende Kälte auf hoher See im Winter, die Kälte des Grabes.
    Ich zitterte wie Espenlaub und riss die Augen auf.
    Die Zeiger meines Messingweckers standen auf Viertel nach sechs.
    Ich schwang die Beine aus dem Bett, tastete mit den Zehen nach den Pantoffeln und watschelte dann, eingewickelt in mein gesamtes Bettzeug – Deckbett, Steppdecke und so weiter  –, wie eine bucklige, leicht übergewichtige Kakerlake zum Fenster hinüber.
    Draußen war es natürlich noch dunkel. Um diese Jahreszeit würde die Sonne erst in zwei Stunden aufgehen.
    Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren groß wie Exerzierplätze, kalte, zugige Säle mit weit voneinander entfernten Wänden und finsteren Ecken, und mein Zimmer, im südlichsten Winkel des Ostflügels gelegen, war das weitläufigste und trostloseste von allen.
    In der Folge eines langen, erbitterten Disputs
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