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Vor Nackedeis wird gewarnt

Vor Nackedeis wird gewarnt

Titel: Vor Nackedeis wird gewarnt
Autoren: Frank Charles
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dicken Teppich eingetreten waren.
    Die Fähre war zu dieser Zeit nicht voll besetzt. Aber da sich alles in dem kleinen Salon zusammendrängte, hatte man den Eindruck, das Schiff sei überfüllt.
    Das Schiff schaukelte und schlingerte hin und her, und diejenigen, die nicht das Glück hatten, an der Bar zu sitzen, nahmen jeden erreichbaren Platz, der sich bot, dankbar in Besitz - in einer sehr miserablen Verfassung.
    Zu den unglücklichsten dieser Menschen zählte Mlle. Colette Bicquet. Normalerweise war sie eine gute Seglerin. Aber einen solchen Seegang hatte sie noch nie erlebt. Schon jetzt spürte sie ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, und sie fühlte sich leicht schwindelig - ein Zeichen einer sehr düsteren und nicht sehr weit entfernten Zukunft. Die Tatsache, daß zwei Stühle weiter eine korpulente, seekranke, englische Matrone saß, wirkte sich nicht gerade günstig aus.
    Colette wandte sich von diesem Bild des Jammers ab und wünschte, sie wäre tot. Die Reling, die sie durch die beschlagenen Fenster des Salons sehen konnte, hob und senkte sich, und nichts auf dieser Welt schien fest und beständig zu sein.
    »Vielleischt das Schiff sinkt«, sagte Colette leise vor sich hin, und voller Hoffnung.
    Sie hatte gerade die traurigste Weihnacht ihres jungen Lebens hinter sich gebracht und war nicht bereit, darauf zu wetten, das Neujahrsfest würde auch nur im geringsten netter werden.
    Sie hatte feststellen müssen, daß eine viermonatige Abwesenheit von zu Hause sie zu einem Fremdling hatte werden lassen.
    Ihre kleine Mutter, ihre Schwester und ihr Schwager hatten sie damals am Bahnhof von St. Rocque erwartet, und alle hatten sie begeistert willkommen geheißen, als sie aus dem Zug stieg. Ein freudiges Gefühl durchfuhr sie, als sie daran dachte, daß sie hierher gehörte und erwartet wurde. Ihre jüngste Schwester hatte an der Haustür gestanden, war ihr um den Hals gefallen und hatte sie herzhaft geküßt.
    So weit, so gut!
    Sie war durch die engen Gassen des kleinen französischen Fischerstädtchens gewandert, das Dymstable so ähnlich und wiederum gar nicht ähnlich war. Sie hatte Freunden und Bekannten zugewinkt. Der alte Pierre Monet hatte sie zu einem Kaffee eingeladen, und sein Sohn, Marcel, hatte versucht, sie auf die Lippen zu küssen. Und noch tiefer zu greifen versucht. Und das alles war völlig in Ordnung, und ein Teil von Colettes Heimat. Ihr Vater war aus Paris angereist, um wie in jedem Jahr auch dieses Weihnachtsfest bei seiner Familie zu verbringen. Am Heiligabend hatte er sie alle zur Mitternachtsmesse begleitet. Die ganze Zeit über hatte er spöttisch gegrinst, aber als das Kreuz erhoben wurde, war er unruhig gewesen.
    Nachdem sie drei Wochen im Kreise ihrer Familie verbracht hatte, war sie nicht mehr länger der bewunderte Gast, sondern ganz einfach Colette, die mittlere Schwester. Wie üblich, zankten sich Maman und Papa und hatten sich gegenseitig eindeutige Ausdrücke an den Kopf geworfen, mit lauter Stimme natürlich.
    Das alles deprimierte sie.
    Von den Charltons kam ein Weihnachtsgruß an. Sie zeigte die Karte in der Familie herum. Man versuchte sofort, die Kosten der Karte mit absoluter Genauigkeit einzuschätzen, und zuckte die Achseln.
    Colette ärgerte sich. Sie verteidigte ihre englische Familie mit einer Leidenschaft, die sie selbst mehr als irgend jemand anderen überraschte.
    Auch Richard Widderby hatte ihr eine Karte und sogar ein Päckchen geschickt. Colette zeigte das Päckchen niemand, verbarg es in ihrem Zimmer und öffnete es dreimal am Tag.
    Sein Geschenk war nicht sensationell, ein kleiner Anhänger in einem verschwenderisch ausgeschlagenen Karton. Aber es berührte sie wohltuend, daß er sich noch an sie erinnerte.
    Dann erfuhr sie aus einem Brief von Adele, daß der widerliche Michael Redfern wieder in Amerika war. Colette gab bekannt, sie beabsichtige, nach England zurückzukehren, um dort ihre Sprachstudien fortzusetzen.
    Die kleine Maman, die das Päckchen und auch die Karte bereits an dem Tage ausgegraben hatte, an dem die Postsendung eintraf, machte keinerlei Einwände. Rücksichtslos fragte sie Colette, wer dieser Freund Richard sei, den sie erwähnt habe. Als sie erfuhr, er sei Mitglied der englischen Regierung, gab sie sich zufrieden. Sie dachte: »Vielleicht ist er eines Tages Premierminister.«
    Im Zug nach Calais konnte Colette dann zum erstenmal wirklich nachdenken. Sie dachte fast hur an Richard Widderby. Sie dachte Schritt für Schritt darüber
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