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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag
Autoren: Linda Howard
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Doch er ging lieber erst gar kein Risiko ein. Seiner Vorsicht hatte er es zu verdanken, daß er Vietnam überlebt hatte, und auch in den fünfundzwanzig Jahren, die seit seinem Ausflug in die grüne Hölle vergangen waren, hatte die Vorsicht ihm nicht schlecht gedient.
    Er sah nicht gerade wohlhabend aus, aber ebensowenig wie ein Penner von der Straße. Sein Mantel war beidseitig tragbar. Die eine Seite, die er nun außen trug, bestand aus einem robusten, leicht abgewetzten Tweed. Die andere Seite, die er nach außen kehrte, wenn er sich draußen unter den Obdachlosen aufhielt, war zerrissen und voller Flicken, die typische Aufmachung eines Penners. Der Mantel war eine gute, simple Verkleidung. Als Scharfschütze wußte man, wie man sich seiner Umgebung anpaßte.
    Als die Reihe an ihn kam, legte er das Päckchen zum Wiegen auf den Tresen und fischte ein paar einzelne Dollarnoten aus seiner Manteltasche. Die Schachtel war an Jeanette Whitlaw in Columbus, Ohio, adressiert. Seine Frau.
    Er fragte sich, warum sie sich nicht längst von ihm hatte scheiden lassen. Teufel noch mal, vielleicht hatte sie das sogar, er hatte sie ja seit Jahren nicht mehr angerufen. Er überlegte, wie lange es wohl her sein mochte -
    »Einen Dollar und dreiundvierzig Cents«, sagte der Schalterbeamte, ohne aufzublicken, und Dexter legte zwei Eindollarmünzen auf den Tresen. Nachdem er das Wechselgeld eingeschoben hatte, verließ er das Postamt ebenso unauffällig, wie er es betreten hatte.
    Ja, wie lange war es eigentlich her, seit er zum letzten Mal mit Jeanette gesprochen hatte? Drei Jahre vielleicht. Vielleicht auch fünf. Er achtete nicht sehr auf den Kalender. Er überlegte, wie alt das Kind inzwischen wohl sein mochte. Zwanzig? War sie nicht im Jahr der Tet-Offensive geboren worden? Konnte sein. Achtundsechzig oder neunundsechzig, so um den Dreh. Dann wäre sie also... verdammt noch mal, sie war neunundzwanzig! Sein kleines Mädchen war fast dreißig! Wahrscheinlich war sie inzwischen verheiratet und hatte Kinder, was ihn zum Großvater machte.
    Er konnte sie sich nicht als Erwachsene vorstellen. Seit mindestens fünfzehn Jahren, vielleicht auch länger, hatte er sie nicht mehr gesehen, und in seiner Vorstellung sah er sie immer noch als Sieben- oder Achtjährige, ein dünnes, scheues Rehlein, mit großen braunen Augen und der Angewohnheit, sich ständig auf die Unterlippe zu beißen. Sie hatte nur flüsternd mit ihm gesprochen, und das auch nur dann, wenn er sie direkt ansprach.
    Er hätte ihr ein besserer Vater sein sollen und Jeanette ein besserer Ehemann. Er hätte eine Menge Dinge in seinem Leben anders machen sollen, aber diese Erkenntnis konnte das Geschehene auch nicht ungeschehen machen. Das einzige, was man tun konnte, war, das Versäumte zu bedauern.
    Aber Jeanette liebte ihn unbeirrbar, selbst nachdem er als ein vollkommen anderer aus Vietnam zurückgekehrt war, als kalter, distanzierter Mensch. In ihren Augen war er noch immer der rastlose, scharfäugige Junge aus West Virginia, in den sie sich verliebt und den sie geheiratet hatte. Daß dieser Junge im insektenverseuchten Dschungel gestorben und ein Fremder zu ihr zurückgekehrt war, mit den Gesichtszügen und der Gestalt des Jungen aus West Virginia, das schien sie nicht zu begreifen.
    Lebendig hatte er sich seitdem nur in den Momenten gefühlt, in denen er ein Gewehr in der Hand hielt und sein Ziel im Visier auftauchte, wenn ihm Adrenalin heiß durch die Adern rauschte, wenn all seine Sinne schlagartig erwachten. Schon komisch, daß ausgerechnet das, was alles Leben in ihm ausgelöscht hatte, nun das einzige war, bei dem er sich lebendig fühlen konnte. Es war nicht das Gewehr; das Gewehr, und mochte es noch so ein treuer und zuverlässiger Begleiter des Menschen sein, war im Grunde nur ein Werkzeug. Nein, was dieses Gefühl, lebendig zu sein, in ihm hervorrief, das war die Jagd, das Geschick, das sie erforderte, und der daraus resultierende Machtrausch. Ja, er war ein ehemaliger Scharfschütze und zwar ein ver-dammt guter. Er hätte vielleicht zu Jeanette zurückkehren können, wenn’s nur das gewesen wäre, dachte er manchmal, obwohl alles Grübeln und Analysieren längst hinter ihm lag.
    Er hatte eine ganze Menge Menschen getötet und einen ermordet.
    Dieser Unterschied stand glasklar in seinem Bewußtsein. Krieg ist Krieg. Aber Mord ist etwas ganz anderes.
    Er blieb bei einem Münztelefon stehen und fischte etwas Kleingeld aus der Tasche. Die Nummer kannte er längst
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