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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag
Autoren: Linda Howard
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die Sache sah, war es immer noch besser, gegen jemanden einen Groll zu hegen, als Frau und Kind einfach zu verlassen, also blieb sie unnachgiebig.
    Sie ließ die Schachtel auf dem Küchentisch stehen und trottete müde ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Die zerknitterte grüne Schwesternuniform warf sie achtlos auf den Fußboden. Gott, ihr taten die Füße weh, sie hatte höllische Kopfschmerzen und war einfach krank vor Kummer. Im Moment arbeitete sie eine lange Schicht, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends, was sie zwar ablenkte, ihre Depressionen aber noch verschlimmerte. Sie hatte das Gefühl, schon seit Wochen keine Sonne mehr gesehen zu haben.
    Ihre Füße waren eiskalt, und sie schlüpfte rasch aus den nassen Schuhen und in eine warme, weiche Jogginghose und dicke Socken. Sie fror und war hundemüde. Sehnsüchtig dachte sie an Wärme und Sonnenschein. Einmal, sie war erst zwei Jahre alt gewesen, waren sie eine Zeitlang in Florida stationiert. Karen konnte sich nicht wirklich daran erinnern, aber wenn sie die Augen zumachte, dann dachte sie an lange, heiße, faule Tage in ewigem Sonnenschein. Jeanette hatte oft sehnsüchtig von Florida gesprochen, wahrscheinlich, weil ihre Tage damals noch relativ glücklich gewesen waren. Dann war Dexter nach Vietnam gegangen und eigentlich nie wieder heimgekehrt. Jeanette war in die Berge von West Virginia gezogen, wo sie ursprünglich herkam, um bei ihrer Familie auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten und für eine sichere Heimkehr zu beten.
    Doch der kurze Aufenthalt war immer länger geworden, und der Mann, der schließlich auf ihrer Türschwelle auftauchte, war nicht mehr derselbe, der sie verlassen hatte. Karen konnte sich noch sehr gut an jene Tage erinnern und daran, wie mürrisch und verschlossen er gewesen war, wie er immer getrunken hatte und wie sie auf Zehenspitzen herumgegangen war, um nicht einen seiner plötzlichen Wutausbrüche zu provozieren. Er wurde immer unausstehlicher, und nicht einmal Jeanettes unverrückbare Liebe konnte ihn halten. Er begann immer öfter zu verschwinden, ein, zwei Tage zuerst, dann eine Woche, mehrere Wochen, bis aus den Wochen Monate wurden und Jeanette eines Tages erkennen mußte, daß er sie für immer verlassen hatte. Viele Nächte weinte sie sich in den Schlaf; auch daran konnte sich Karen noch gut erinnern.
    Sie zogen von West Virginia nach Ohio, wo Jeanette einen besseren Job fand. Danach gab es noch die paar Anrufe, ein paar Briefe, und einmal tauchte Dexter tatsächlich für einen kurzen Besuch auf. Karen war damals in der
    Schule gewesen und hatte ihn nicht gesehen; er war schon fort, als sie nach Hause kam. Aber Jeanettes Wangen waren gerötet, ihr Gesicht hatte sanft gestrahlt, und Karen war mit ihren neunzehn Jahren reif genug gewesen, um zu wissen, daß ihre Eltern den Besuch in Jeanettes Schlafzimmer verbracht hatten. Das war jetzt zehn Jahre her, und Jeanette hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Aber sie hatte dennoch nie aufgehört, ihn zu lieben. Das verstand Karen zwar nicht, aber sie akzeptierte die Beständigkeit der Gefühle ihrer Mutter. Jeanette liebte ihren Ehemann bis zu ihrem Ende, obwohl er sie verlassen hatte.
    Nach einem kalten Abendessen, das aus einem Teller Cornflakes bestand, zwang sich Karen, den Brief nochmals zur Hand zu nehmen.
    »Jeanie - hier sind ein paar alte Papiere von mir. Leg sie in ein Bankschließfach, und heb sie für mich auf. Sie sind vielleicht eines Tages einen hübschen Batzen Geld wert - Dex.«
    Das war’s. Kein Gruß, kein »liebe Jeanie«, kein »es liebt dich dein«. Er schickte einfach seinen Müll an ihre Mutter und erwartete, daß sie ihn für ihn aufhob.
    Und das hätte sie auch. Jeanette hätte sich sorgfältig an seine Anweisungen gehalten und selbst das kurze Schreiben aufgehoben, zusammen mit dem erbärmlich dünnen Stapel Briefe, den sie aus seiner Zeit in Vietnam bewahrte.
    Karens erste Reaktion war, das Päckchen in den Müll zu werfen. Doch sie unterließ es aus Achtung vor ihrer Mutter. Statt dessen brachte sie es in Jeanettes leeres Schlafzimmer und legte es in einen von den Umzugskartons, in denen sie die Sachen ihrer Mutter verstaut hatte. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, etwas davon wegzuwerfen, also hatte sie einen Containerraum gemietet, um vorerst einmal alles dort unterzustellen, bis sie zum Ausmisten bereit war.
    Sie war beinahe fertig mit Packen. Nur noch einige wenige Dinge fehlten, die auf der Schminkkommode standen. Karen legte auch
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