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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone
Autoren: Reski Petra
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las aus der Stille heraus, dass Mario Caniglia ein doppeltes Spiel gespielt und das Schutzgeld bezahlt haben musste. Jetzt hatte Mario Caniglia keine Carabinieri mehr, die ihn zu den Treffen mit wichtigen Freunden von Freunden begleiteten. Er trug auch keine Abhörgeräte mehr am Körper. Er war allein. Und er nahm sich vor, im Stehen zu sterben, in piedi , wie man es in Sizilien nennt, wenn einer nicht um sein Leben fleht.
    Nach Wochen der Ungewissheit wurde er eines Nachts in dem Orangenhain von einer wichtigen Person erwartet. Das richtete ihm der Wächter aus. Als er vor dem Orangenfeld stand und niemanden sah, sagte ihm der Wächter: »Auch die Sterne haben Augen. Geh nur hinein.« Und Mario Caniglia, der in seinem Leben noch nie Angst hatte, merkte, wie seine Hosen nass wurden. Es war Palmsonntag.
    Eine Stimme in dem Dunkel sagte: »Komm näher.« Es war wieder der Freund des Wächters. Er sprach sehr höflich. Er habe sich in der Angelegenheit mit wichtigen Freunden beraten. Man wolle sich mit seinen angebotenen fünf Millionen begnügen: Er solle sie jedoch bald bringen, damit die picciotti , die Mafiosi untersten Rangs, Ostern feiern könnten.
    »Für viele Sizilianer wäre die Geschichte hier zu Ende. Aber ich wollte keinen Pakt mit dem Teufel«, sagte Mario Caniglia. Er informierte die Polizei, und die filmte die Geldübergabe. Bald danach wurden die Mafiosi festgenommen. Und als alles vorbei war, als seine Erpresser hinter Gittern saßen und ihn niemand mehr bedrohen konnte,als er sich nicht mehr vor jedem Motorradfahrer und jedem Windstoß fürchten musste, da dachte Mario Caniglia an Selbstmord.
    Denn wenn er in der Bar auftauchte, spuckte man aus, zischte: Gehörnter , Scherge , Carabiniere . Wenn sein Sohn die Straße überquerte, flüsterte man: Sohn eines Gehörnten , Scherge , Carabiniere . Jeder Schritt wurde zum Spießrutenlaufen. Nie mehr mit offenem Gesicht auf die Straße. Am Tag, als seine Erpresser verhaftet wurden, standen Beamte des Personenschutzdienstes in seiner Küche und boten ihm an, Sizilien zu verlassen, die ganze Familie über Nacht an einen unbekannten Ort aufs Festland zu bringen, auf den Kontinent, Ehefrau und Sohn, Töchter, Schwiegersöhne und Enkelkinder – wo sie sich ein neues Leben aufbauen sollten, unter falschem Namen und mit einer falschen Vergangenheit und Geld vom italienischen Staat.
    Flüchten wie ein Verräter? Wie ein Ruchloser? Warum sollte ausgerechnet er Sizilien verlassen? Er, der einen Hektar Land von seinem Vater geerbt und daraus fünfunddreißig Hektar gemacht hatte? Der aus Not zum Unternehmer wurde, weil er in jenem schlechten Jahr, in dem seine Orangen auf den Bäumen zu verfaulen drohten, seine Ernte zum ersten Mal in jenem Land anpries, in das er bis dahin noch nie einen Fuß gesetzt hatte: dem reichen Italien? Der in Mailand schließlich nicht nur seine ganze Ernte, sondern auch die von anderen Orangenbauern verkaufte? Der Reichtum für sich und für andere geschaffen hat? Und was für eine Schuld hätten seine Enkel gehabt, dass sie hätten leben müssen wie Davongelaufene, fern von jener Erde, die sie hervorgebracht hat, fern vom Orangenblütenduft? Und er, wer wäre er gewesen: ein Mann ohne Vergangenheit? Was für ein Mann ist das?
    »Nein«, sagte seine Frau. Flucht, das wäre noch schlimmergewesen als die Erpressung. Sie saßen in der Küche, an jenem großen Esstisch aus Olivenholz, an dessen Kopfende Mario Caniglias Platz war, der Platz des Patriarchen, und um den die Familie versammelt war, als es darum ging, zu fliehen oder zu bleiben. »Nein«, sagte Mario Caniglia, »nein«, sagten seine Töchter, »nein«, sagte sein Sohn und sagten seine Schwiegersöhne.
    Seither lebte Mario Caniglia mit vier Leibwächtern und einem gepanzerten Wagen. Und seine Wohnung über der Lagerhalle, jene tanzsaalgroßen Räume in Bleu und Rosé, die aussehen wie Ausstellungsräume, mit funkelnden Fliesen und falschem Stuck und Kronleuchtern, mit Kristallgläsern, die nur ein Mal im Jahr zum Anstoßen benutzt werden, mit Trockenblumensträußen und offenem Kamin und Whirlpool-Badewanne, mit dem sepiafarbenen Porträt seines Vaters, unter dem sich die ganze Familie bei jeder Hochzeit, Taufe, Silberhochzeit versammelt und mit ernstem Sonntagsblick in die Kamera schaut – diese Wohnung ist seine Burg.
    Seine Töchter, seine Frau und sein Sohn haben auf Leibwächter verzichtet – und versuchen ein normales Leben zu führen. Man hat ein paar Freunde verloren.
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