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Vom Wunsch, Indianer zu werden

Vom Wunsch, Indianer zu werden

Titel: Vom Wunsch, Indianer zu werden
Autoren: Peter Henisch
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Jahren kein Mann mehr angestarrt hatte. Sie war um die Vierzig, ihr Gatte war Sechsundsechzig. Zwar legte er Wert darauf und hatte seine Freude daran, daß sie an seiner Seite so relativ jung wirkte. Aber neben einem um so viel älteren Partner fiel das einerseits leicht und anderseits schwer, und noch ehe sie sichs recht eingestand, hatte sie sich damit abgefunden, an seiner Seite alt zu werden, ohne besonderes Aufheben davon zu machen.
    Sie bemerkte das manchmal, wenn sie in den Spiegel schaute. In dem Reisekostüm etwa, das sie sich extra für die Fahrt nach Amerika hatte schneidern lassen, hätte auch ihre Mutter stecken können. Jetzt allerdings hatte sie, erhitzt von der Schlepperei zuvor, die mausgraue Jacke abgelegt. Und in der weißen, spitzenbesetzten Bluse, die sie darunter trug, sah sie, das wußte sie, immer noch ganz gut aus.
    Was den Blick des jungen Mannes betraf, so wußte sie indessen nicht, was sie davon halten sollte. Vielleicht war er ja ein Mißverständnis, vielleicht war er aber auch eine Frechheit. Sie entschied sich vorläufig für die erste Version. Der abwesende Eindruck, den der junge Mann sonst vermittelte, machte es doch ziemlich unwahrscheinlich, daß eine anwesende Person so einen Effekt auf ihn ausübte.
    So nehmen Sie doch Platz, sagte ihr Gatte, der sich selbst gern gesetzt hätte, nach wie vor vergeblich. Der Steward war zweimal auf- und wieder abgetreten, und der junge Mann stand noch immer. Aber vielleicht war es ohnehin angemessen, den N APOLEON im Stehen zu trinken. Na denn, wohl bekomms, mein Name ist übrigens Burton, und die Dame ist Mrs. Burton, meine liebe Frau.
    Darauf reagierte der junge Mann immerhin. Burton, Burton … aber sind Sie kein Deutscher? Bin ich, bin ich, sagte der ältere Herr. Aber seien Sie so gut und sagen Sie es trotzdem nicht weiter. Zwar sei er sonst der letzte, der seine Nationalität verleugne. Ja, im Zuge seiner nicht unerheblichen Reisen habe er meist darauf Wert gelegt, sie zu erwähnen. Allerdings – und hier sah er seine Gattin, die vielleicht lächelte, etwas gekränkt an –, allerdings gebe es manchmal Gründe … Kurz gesagt, Gründe, die es auch oder gerade einem Mann wie ihm nahelegten, seine geliebte Herkunft und seinen guten Namen zu verschweigen.
    Enttäuschenderweise gab sich der junge Mann mit dieser Antwort zufrieden. Hatte es zuvor so ausgesehen, als sei er gewissermaßen aufgewacht, so schien es jetzt auch schon wieder damit vorbei zu sein. Er stand zwar da, aber war, so schien es, woanders. Die Art, wie er sein Cognacglas, aus dem er nur genippt hatte, exakt an der Kante des Tischs deponierte, von wo es Herr Burton vorwurfsvoll Richtung Mitte schob, war die eines Traumwandlers.
    So setzen Sie sich doch endlich, Sie sehen noch immer recht strapaziert aus!
    Entschuldigung, sagte der junge Mann, man wußte nicht, wofür.
    Ja, setzen Sie sich, entspannen Sie sich, vielleicht legen Sie sich am besten aufs Bett. Du hast doch bestimmt nichts dagegen, Karl, wenn er sich für fünf Minuten aufs Bett legt.
    Was sollte, was konnte Herr Burton dagegen haben?
    Der junge Mann allerdings wurde rot: Aber Entschuldigung, Verzeihung …
    Entschuldigen Sie sich doch nicht dauernd für nichts und wieder nichts! Dieser immer noch dumm herumstehende junge Mensch ging dem Herrn Burton allmählich auf die Nerven.
    Nun legen Sie sich schon aufs Bett, sagte er und versetzte, noch bevor seine Frau dazwischentreten konnte, dem Gast einen, wenn auch nur leichten Stoß vor die Brust. Der hielt nicht viel aus und geriet vom Schwanken ins Taumeln. Legen Sie sich schon aufs Bett, sagte der Herr Burton, den jungen Mann vor sich hertreibend, da haben wir wenigstens mehr Platz! Angesichts der Größe der Kabine schien diese Bemerkung ziemlich unpassend.
    Der junge Mann fiel nicht ohne Bereitwilligkeit. Rückwärts fiel er. Und sah sich noch immer am Start stehen. Unter dem Torbogen, hinter dem Nieselregen. Den Koffer in der Linken und den nach wie vor unaufgespannten Schirm in der Rechten.
    Bilder: Ein kleines Mädchen mit einem müden Hündchen in den vorgestreckten Armen. Zwei Herren, die einander Mitteilungen machten, der eine mit nach oben gekehrten Handflächen gestikulierend, als halte er eine Last in Schwebe. Eine Dame mit überladenem Hut, ein junger Herr mit dünnem, eiligem Stock. Sie, mit einem vor Fremdheit unter den anderen Passanten leicht flimmernden Gesicht, er, eine Hand platt am Herz, als wäre sie gelähmt.
    Vielleicht jedoch hatte er diese
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