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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Autoren: Wolfgang Luehrs
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Menschen sind aus aller Herren Richtung angereist. Wir entnehmen es den Nummernschildern der Autos Die Trauer scheint verflogen, man begrüßt sich herzlich, packt sich an den Schultern und betrachtet einander, wie es Menschen tun, die sich lange nicht gesehen haben, lacht und wärmt sich in der Sonne. Man lebt weiter, will den Tod vergessen, auch wenn er betroffen macht. So ist es immer, und je älter man wird, desto zerbrechlicher fühlt man sich, wenn man an ihn erinnert wird.
    Doch die unsichtbare Kluft zwischen Leben und Tod, so unermesslich sie uns scheint, existiert vielleicht gar nicht. Ist der Tod nicht wie ein endloser Schlaf, in den wir jeden Abend, ohne es zu merken, hineingleiten und dabei das Bewusstsein unserer Existenz verlieren? Nichts von dem, was um uns herum ist, nehmen wir bewusst im Schlaf wahr, und wenn wir träumen, sind wir in einer anderen Welt, die uns so real scheint wie das Leben zuvor. Wir leiden, wir lachen, wir reden, wir leben, während unser Körper wie tot daliegt, und niemand außer den Traumgestalten hat daran teil. Keiner, der uns betrachtet, weiß, wo wir sind, und wir wissen nichts von ihnen. Und wie manchmal Signale aus der realen Welt den Träumenden erreichen und seinen Traum beeinflussen, so gibt es vielleicht eine Verbindung von den Lebenden zu den Toten und umgekehrt, wenn ein Schlafender im Traum Signale aus seiner rätselhaften Welt übermittelt, wenn er lacht, schreit oder redet, ohne dass sich der Grund erschließt.
    Für einen Moment kehrt die Melancholie des Vormittags zurück, aber schon ist das Ereignis vorbeigezogen, und der Weg nimmt mich wieder in Beschlag, die Gedanken verlieren sich. Der Rucksack drückt, ich stolpere über eine Baumwurzel, eine Weggabelung erfordert einen Blick auf das Navigationsgerät, ein Geräusch lenkt ab – ständig wechselt meine Aufmerksamkeit ihr Ziel.
    Die nächsten Stunden wandern wir über kleine Hügel mit verwunschenen Hainen und schmalen Pfaden, queren Weiden, um wieder einzutauchen in geheimnisvolle und, wie mir scheint, nur selten betretene Waldabschnitte. Ich nehme den Weg an und lasse mich treiben, vorbei an winzigen Dörfern, schmalen, frühlingsklaren Bächen, in denen sich die frischen, hellgrünen Pflanzen wiegen, und Feldern, aus denen sich das junge Grün der Sonne entgegenreckt. Alles ist wie gerade geboren, und ich nehme es dankbar an. Ich bin unterwegs, und dies ist erst der Anfang.
    Gegen späten Nachmittag erreichen wir eine Bank am Waldrand mit Blick über eine Wiese, auf der sich Pferde tummeln. Die Sonne steht nicht mehr hoch und scheint uns ins Gesicht. Insekten tanzen in den warmen Strahlen. Ich schließe meine Augen und spüre die aufkommende Müdigkeit.
    „Was meinst du, Martin, sollen wir langsam Quartier machen?“ Ein dankbares Ja ist die Antwort.
    Auf uns wartet ein Bett, denn eine Arbeitskollegin wohnt in der Nähe, und auf einen Anruf hin würde sie uns mit dem Auto abholen. So kommt es denn auch. Wir treffen uns eine knappe Stunde später an einer Stelle, die ich mit meinem Navigationsgerät bestimmt habe.
    Erschöpft, aber zufrieden sinken wir in die Sitzpolster und fahren einem gemütlichen Abend entgegen. Unterwegs machen wir noch einen Stopp auf einem großen Gestüt, in dem meine Kollegin ihr Pferd untergebracht hat. Ohne Rucksack schlendern wir durch die Ställe. Mir ist, als wenn ich schweben würde. Die Abendsonne flutet den Innenhof, Mücken tanzen, und Schwalben sicheln ständig unter das überspringende Dach der Stallungen und schießen kurz darauf wieder hervor. Es ist wie in einem Pilcher-Film: idyllisch, friedlich, aber, weil es echt ist, eben nicht kitschig.
    Ich liege nun nach dem Genuss von drei Maibock und einem köstlichen Abendbrot ein wenig duhn, aber zufrieden im Bett. Mein Wanderbruder Martin und der Mann meiner Kollegin sitzen noch draußen und bechern.
    Es war ein Tag voller Spannungen, erfüllt von Melancholie, Vorfreude und Ungläubigkeit. Ich nehme das erste Mal mein kleines Diktiergerät in die Hand und spreche meine Eindrücke auf Band. Der Absprung ist geschafft, endlich sind wir unterwegs.
    Von einer Gesellschaft in der Nähe schallt Musik herüber. Ich lasse mich von den Melodien treiben, denke an meine Frau, welche jetzt mit Freunden in einem Biergarten in Lüneburg den traditionellen „Tanz in den Mai“ feiert. Viele, viele Tage liegen noch vor mir, bis ich sie wiedersehen werde. Doch keine Wehmut, nur eine wohlige Müdigkeit überkommt mich, und ich gleite in
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