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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Autoren: Wolfgang Luehrs
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(SÜDL. LÜNEBURG), 27 KM
    Schließlich nehme ich meinen Rucksack auf, trete auf die Straße und wende mich ab. Wir wagen die ersten Schritte, gehen die Straße hinunter, und bevor meine Familie aus dem Sichtfeld verschwindet, drehe ich mich noch einmal um, winke und werfe einen letzten Kuss hinüber. Dann sind wir allein, das Abenteuer hat begonnen. Wir gehen über eine Eisenbahnbrücke, wenden uns nach rechts und gelangen in den Stadtwald. Alles bekannt, nichts Neues, keine Begeisterung. Ich fühle mich wie in einer Zwischenwelt, unwirklich, ja fast lächerlich. Hier laufe ich nun in meiner vertrauten Umgebung mit Wanderstiefeln und einem schweren Rucksack und könnte im Moment niemandem unser Vorhaben auch nur annähernd mit Begeisterung vermitteln.
    Nun ist es also so weit. Die Theorie ist vorbei, jetzt kommt die praktische Prüfung. Die Bedingungen sind glänzend: Ein tiefblauer Himmel wölbt sich über unserem Start, und eine strahlende Frühlingssonne erwärmt die Luft. Es gilt, Abschied zu nehmen. Mit gemischten Gefühlen umarme ich meine beiden Kinder und meine Frau. Zu ungewiss ist das, was auf mich zukommt, zu verhalten meine Freude ob der langen Trennung. Ein wenig bange ist mir schon.
    Kurz bevor wir in den Wald eintauchen, werde ich durch ein hupendes Auto aus meinen trüben Gedanken gerissen. Der Wagen kommt neben uns zum Stehen, und meine Tochter lacht mich mit ihrem von ihrer Mutter geerbten, zauberhaften Lächeln an und schwenkt meine Lieblingswandermütze. Die hatte ich tatsächlich vergessen und sollte ich auch bald wieder verlieren.
    Als ich das erste Mal mein Navigationsgerät testen will, müssen wir eine längere Pause einschieben, denn es funktioniert nicht. Wir sind gerade mal eine halbe Stunde unterwegs, ich lehne mit meinem Rucksack an einer hohen Buche und versuche, das GPS-Signal auf das Display zu bekommen. Martin hat sich auf eine circa 50 Meter entfernte Bank verkrümelt und widmet sich einer Tüte mit Essbarem, als ginge ihn das alles nichts an. So, so, denke ich, das fängt ja gut an. Ein bisschen Interesse für unser augenblickliches Problem könnte er doch zeigen. Aber ich verscheuche die aufkommenden schlechten Gedanken – die kann ich bei meiner augenblicklich eher bedeckten Stimmung nicht gebrauchen.
    Schon jetzt zieht und zerrt mein Rucksack an den Schultern. Ich komme aber auch nicht auf den Gedanken, ihn abzulegen.
    So stehe ich da, schwitze und kämpfe mit der Technik und bin eigentlich noch gar nicht weg. Plötzlich blinkt mein Navi. Ich sehe unseren blauen Treck, das GPS-Signal und die dahinterliegende Karte – es funktioniert und brauchte so lange, weil das junge Blätterdach und das dichte Geäst über mir die Ortung erschwerten.
    Nach zwei Stunden erreichen wir den ersten Ort, nehmen in einem Supermarkt einen Kaffee zu uns und essen vor dem Markt an der vielbefahrenen Bundesstraße ein Stück Kuchen im Stehen. Meine Schultern spannen, und ich kann mir nicht im Ansatz vorstellen, dass ich das alles wirklich will. Heute Abend ist „Tanz in den Mai“, und ich bin nicht dabei, latsche jetzt gleich zwei Kilometer an der hammerhart befahrenen B4 entlang und soll mich dann noch freuen.
    Wir schultern unsere Rucksäcke und brechen auf, wandern ein Stück entlang der Bundesstraße. Dann führt uns unser Navi rechts ab in ein Waldgebiet, und schon nach wenigen Metern bleibt der Verkehrslärm zurück und wir sind allein. Der Weg wird schmaler, die Bäume treten dicht an uns heran. Nach einer Weile öffnet sich der Wald und vor uns liegt der junge Frühling: eine sonnenüberflutete Senke mit saftigen Wiesen, einem Bach, der an einigen Stellen über die Ufer getreten ist, dahinter ein sanft ansteigender Hang, am Horizont begrenzt von Bäumen. Die Luft ist klar und rein, und außer dem Gezwitscher der Vögel ist nichts zu hören. Wie lieblich diese Landschaft ist, wie unberührt, so alt und doch so jung. Mein Herz schlägt höher, und ich spüre auf einmal den Sog, den diese Natur auf mich ausübt. Wir schreiten hinein in jenes Bild und werden ein Teil von ihm. Leicht ist es auf einmal, zu gehen und sich zu freuen, und für einen Moment steht die Zeit still. Ich bekomme eine Ahnung von dem, was Wandern bedeutet.
    Einige Zeit später treffen wir auf eine Beerdigungsgesellschaft, die sich vor einem einzeln liegenden Gasthof sammelt, die Männer mit einer Burschenschaftsschärpe unter den Anzugsjacken. Ein bekannter Arzt der Region, so erfahren wir später, ist gestorben, und die
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