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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Autoren: Wolfgang Luehrs
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einen tiefen Schlaf.

U NTERWEGS
    DONNERSTAG, 1. MAI
WESSENSTEDT – HÖSSERINGEN (ÖSTL. LÜNEBURGER HEIDE), 31 KM
    Das Bockbier hat sich in meinem Schädel eingegraben und leichte Risse in meinem Hirn verursacht – Kopfschmerzen sind das Erste, was ich beim Erwachen wahrnehme. Egal, denke ich – ganz gegen meine sonst morgenmuffelige Art. Das war ein schöner Abend, und heute ist ein besonderer Tag, nämlich der 1. Mai und Himmelfahrt in einem, was zuletzt 1913 der Fall war und erst im Jahre 2160 wieder passieren wird.
    Die Sonne lacht vom wolkenlosen Himmel. Es soll weitergehen. Ich schlucke eine Kopfschmerztablette und gehe hinunter zum Frühstück. Martin fehlt nichts. Der Mann hat das Doppelte an Bier verklappt, ohne Schaden zu nehmen, und ist dabei auch noch fröhlich. Manchmal kann ich fröhliche Menschen am Morgen nicht ab.
    Wir werden nach dem Frühstück an die Stelle zurückgefahren, an der wir abgeholt worden sind, und der zweite Wandertag beginnt. Nach gut vier Kilometern erreichen wir Ebstorf im Landkreis Uelzen, bekannt durch eine mittelalterliche Weltkarte von etwa dreieinhalb Metern Durchmesser, die größte aus dieser Zeit. Sie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts in dem Benediktinerinnenkloster in Ebstorf gefunden.
    Der nicht unbedingt kleine Ort ist wie ausgestorben, niemand begegnet uns, und ganz selten überholt uns ein Auto. Diese Leere und Verlassenheit wirken abweisend. Eine Windböe wirbelt Staub und Papier auf, es ist zugig auf den Straßen zwischen den Häusern. Wir fühlen uns nicht wohl und machen uns davon, gelangen durch die typischen Neubaublasen mit ihren austauschbaren Häusern, den winzigen Parzellierungen und den Standardsupermärkten wieder auf offenes Terrain.
    Es ist kühler geworden. Die Sonne schimmert blass durch hohe Schleierwolken. Der erste Wandertag steckt mir in den Knochen, und die Kopfschmerzen halten sich hartnäckig. Meine einzige lange Hose scheuert im Schritt. Immer wieder muss ich sie nach unten ziehen, um Reibungen an der empfindlichen Stelle zu vermeiden. Darüber hinaus beginnt mein Rücken an den Lendenwirbeln zu schmerzen, dort, wo ich vor Jahren einen Bandscheibenvorfall hatte. Die Asphalttreterei auf der Landstraße, die uns durch die sich mittlerweile bis zum Horizont erstreckenden Äcker führt, macht alles noch viel schwerer. Der Krüppel und sein Betreuer auf Himmelfahrtstour, so komme ich mir vor. Ich quäle mich, bin müde und laufe ohne Enthusiasmus. Das fängt ja gut an. Willkommen in der Wirklichkeit!
    Wir biegen auf eine Kreisstraße ab – der Asphalt bleibt. Eine Hochspannungsleitung zieht sich wie ein Raumteiler quer durch die Landschaft, niemand außer uns scheint unterwegs zu sein. Dabei ist heute doch Vatertag. Eigentlich habe ich erwartet, dass die Landjugend mit Bollerwagen voller Bier in Scharen durch die Felder streift und trunkene Lieder den Gesang der Vögel übertönen. Möglicherweise aber haben sich die jungen Leute bereits beim Tanz in den Mai verausgabt.
    In dem kleinen Dorf Gerdau lassen wir uns vor der alten Kirche auf einer Bank unter einem Kastanienbaum nieder. Gott sei Dank hat uns meine Kollegin Proviant mitgegeben, so dass wir nicht die sämigen Powerriegel futtern müssen. Martin ist nach wie vor in guter Stimmung, ihn ficht nichts an.
    In dem Dorf ist es still. Nur das Rauschen des Windes in den Blättern der Kastanie und das regelmäßige Schlagen der Turmuhr sind zu hören. Die Strahlen der Sonne fallen durch das junge Laub und umspielen unsere Körper. Wieder habe ich das Gefühl, in einem Gemälde zu sitzen, das diesen Moment für immer festhält. Es ist, als ob die Ewigkeit hier zu Hause sei und darum alles so ist, wie es immer schon war und auch immer bleiben wird.
    „Wollen wir weiter?“
    Martins Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Ich erhebe mich, prüfe die Tragegurte meines Rucksacks und justiere sie neu, denn es drückt und zwackt an der Schulter- und oberen Rückenmuskulatur. Es wird eine Weile dauern, bis ich die richtige Einstellung gefunden habe.
    Die Strecke bleibt einsam. Auf einem zugigen Platz – vor dem einzigen offenen Gasthaus in einem Dörflein – nehmen wir im Schatten eines Baumes einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu uns. Mich fröstelt, ich habe wenig Energie und immer noch die Grenze im Kopf. Deutschland, wo ist deine Schönheit, wo ist dein Charme? Die Zweifel nagen an mir. Wie viele solcher landwirtschaftlich intensiv genutzten Regionen werden wir durchwandern müssen? Sie sind so
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