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Vom Kämpfen und vom Schreiben

Vom Kämpfen und vom Schreiben

Titel: Vom Kämpfen und vom Schreiben
Autoren: Carla Berling
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mich jetzt? Ich hasse meine Zweifel. Und werde sie nicht los. Diesmal nicht.
    Am 29. März treffe ich Hardy. Er ist grade aus dem Krankenhaus gekommen und wartet auf die Diagnose einer Untersuchung. Dennoch hört er mir aufmerksam zu, als ich ihm von diesem Buch erzähle. Wir haben uns fast ein Jahr nicht gesehen, aber wir sind einander so vertraut, wie man es nur sein kann, wenn man sich dreißig Jahre kennt. Unser Gespräch dreht sich zuerst um unsere Söhne, wie immer. Der Ältere beendet übermorgen sein Praktikum in Berlin und geht direkt nach Frankfurt, um sein Studium zu beginnen. Der Jüngere ist zurzeit auch in Berlin bei den Aufnahmeprüfungen an der Universität der Künste. Er will Musicalsänger werden.
    Hardy und ich verabreden, dass ich ihm das Manuskript am Telefon vorlese, wenn ich morgen wieder in Köln bin.
    Es ist, als ginge ich mit ihm auf eine Zeitreise, zurück in das kleine kalte Haus, in dem das Schreiben begann. Seine Meinung zu hören tut mir gut, er ist aufmerksam und kritisch, und er ist damit einverstanden, dass er in der ersten Hälfte dieses Buches eine Hauptrolle spielt. Begleitet von vielen »Weißt du noch?« gehen wir Satz für Satz durch. Ich feile am Text, hab manches vergessen, anderes nicht richtig in Erinnerung gehabt, Hardy ist eine große Hilfe. Und am 1. April verändert sich alles.
    »Ich habe Krebs!«, ruft Hardy ins Telefon und ich habe das Gefühl, eine heiße Nadel bohrt sich in mein Gehirn. Meine Stimme versagt, ich kann nur flüstern.
    Hardy teilt alles mit mir. Seine Panik, seine Hoffnung, seine Verzweiflung, seinen Mut, seine Schmerzen. Wir telefonieren täglich, manchmal fünf Mal am Tag. Oft ruft er an und sagt: »Lies mir aus dem Schreib-Buch vor, bitte, ich muss mal an was anderes denken als an diesen Scheißkrebs.«
    Und dann gehen wir wieder zurück in unser altes Leben. Das letzte Kapitel, das ich ihm vorlese, ist das, in dem er mit seiner neuen Freundin zu meiner Lesung in Köln kommt. Danach taucht er in diesem Buch nicht mehr auf.
    Am 26. Juni ist er tot.
    Er stirbt im Krankenhaus, während unsere Söhne vor seiner Tür warten. Als der Große anruft und sagt: »Mama, er hat es nicht geschafft«, schreie ich die ganze Welt in Scherben.
    Drei Tage zuvor hat unser Jüngster seinen Ausbildungsplatz bekommen, ein Vollstipendium in Hamburg, zum 1. August. Was für ein großes Glück. Welche Tragödie, dass es jetzt geschieht. Es ist, als habe Hardy gewartet, bis er uns drei, die Jungs und mich, auf den Weg gebracht hat, um sich dann zu verabschieden.
    So viele Gefühle: Verzweiflung, Entsetzen, Panik, Angst, Unglauben, Unverständnis, Wut sogar. Entsetzen darüber, dass die schlimmste Befürchtung wahr wurde. Panik, weil die Wucht der Emotionen mich wieder und wieder zittern und schreien lässt, weil ich im Moment der Hiobsbotschaft die Kontrolle verloren habe. Angst, dass meine Söhne nur mit mir, ohne ihren Papa, nicht zurechtkommen. Dass ich es nicht schaffen werde, die Lücke zu füllen, die in ihrem Leben entstanden ist. Die Angst ist berechtigt, denn ich kann sie nicht füllen. Das will ich auch nicht. Unglauben darüber, dass es wirklich wahr ist, er ist gestorben, weg, tot. Nie mehr.
    Hundert Telefonate, Besuche am Krankenbett, Hilfe, wo ich helfen konnte.
    Er war nicht mehr mein Ehemann, schon lange nicht mehr. Aber er war der Vater meiner Söhne und wir sind Freunde geblieben. Dreißig Jahre gehörte er täglich zu meinem Leben. Am Ende ist es immer zu wenig und das Ende ist immer zu früh. Wir haben auch nach der Trennung, selbst nach der Scheidung, jeden Tag miteinander geredet. Über alles.
    Ich bin wütend, weil er sich so schnell verabschiedet hat. Das kann man doch nicht machen! Man kann. Ein Leben ist zu Ende, hier jedenfalls. Das Loch, in das ich stürze, ist bodenlos.
    Meine Söhne und die Freundin des Großen holen mich am Bahnhof ab. Den Moment, als wir uns am Bahnsteig in die Augen sehen, vergesse ich nie mehr. Gibt es uns überhaupt noch, wenn einer fehlt?
    Hardy lebte von Sozialhilfe, hinterließ Schulden. Die Jungs müssen das Erbe ablehnen. Der Jüngere ist im freiwilligen sozialen Jahr, geht in vier Wochen nach Hamburg, der Ältere studiert in Frankfurt. Sie sind mittellos.
    Sie telefonieren mit Freunden und Verwandten, überbringen die unfassbare Botschaft, sagen immer wieder diesen Satz, dessen Inhalt uns alle gar nicht erreicht: »Mein Papa ist am Sonntag gestorben.«
    Der Bestatter kommt mit berufsbetroffenem Lächeln, wir
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