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Vom Kämpfen und vom Schreiben

Vom Kämpfen und vom Schreiben

Titel: Vom Kämpfen und vom Schreiben
Autoren: Carla Berling
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empfangen ihn in der Wohnung meiner Schwester. Als er hört, dass kein Geld da ist, dass er keine Erdbestattung mit Grab, Sarg, Kapelle, Pfarrer, Kerzen, Blumen, Orgel und Zeitungsanzeigen verkaufen kann, packt er seine Liste wieder ein. Er leiert sein Angebot herunter: Feuerbestattung auf dem anonymen Friedhof in Bielefeld, Abschied am Sarg auf dem Friedhof, mehr zahlt das Sozialamt nicht. Für hundertfünfzig Euro bekommt Hardy eine Metalltafel mit seinem Namen. Ja, sein Name soll für immer irgendwo stehen.
    Der Abschied ist schon am Mittwoch. Kein Pfarrer, keine Trauerkarten, keine Anzeigen. Wir planen nur einen Tag lang. Ich hätte gern 99 Luftballons gehabt und sie steigen lassen, an unserem letzten Date. Das Lied hat uns drei Jahrzehnte begleitet. Sie sind so schnell nicht zu besorgen.
    Dann stehen wir vor dem Friedhof. Wir wissen nicht, wer kommen wird, um sich zu verabschieden. Mein Herz ist schwer wie ein Planet.
    Familie, Hardys Schwestern, Freunde, Exfreundinnen und seine letzte Freundin. Sie hatten sich seit Januar nicht mehr gesehen.
    Wir haben Rosen mitgebracht, mein Sohn gibt jedem eine in die Hand. Stumm. Es ist still, ganz still, als wir langsam den Weg zur Kapelle entlanggehen. Nur die Schritte höre ich, und Vogelzwitschern.
    Da vorn ist ein kleiner Platz. Ein Gebäude. Eine offene Tür. Eine Kerze, eine Blume. Ein Sarg. Er liegt darin. Für immer. Wir werden ihm gleich ganz nah sein, noch einmal, dieses eine Mal nur noch, und dann werden wir gehen müssen und er kann nur noch in meiner Erinnerung leben. Wie gerne hätte ich seine Hand gehalten, als er starb, so, wie er meine hielt in ungezählten Momenten. Als die Kinder geboren wurden, er hielt meine Hand, als ich schrie. Als mein Bruder starb und mein Vater, wenn ich siegte, wenn ich scheiterte, wenn ich krank war, wenn ich Angst hatte, wenn ich glücklich war, immer hielt Hardy meine Hand. Er hielt sie bei unserer Hochzeit und bei unserer Scheidung. Immer und nie mehr.
    Jetzt halten unsere Söhne meine Hände. Sie zittern.
    Wir bleiben auf dem Platz stehen, Kinder, Familie, Freunde. Trauer in verzweifelten Gesichtern. Wir stehen im Kreis. Es ist so still, dass ich denke, mein Herzschlag sei weithin zu hören.
    Ich muss etwas sagen. Für die Jungs und für ihn. Ich kann ihn nicht wortlos gehen lassen.
    »Dieser Mann hat jeden von uns irgendwann sprachlos gemacht, und wenn wir heute nicht viele Worte finden, dann ist das fast normal.« Ich kann nicht glauben, dass ich auf Hardys Beerdigung spreche. Lieber Gott, lass es ein Albtraum sein. Die Worte kommen von selbst. »Es ist nicht wichtig, dem Leben Tage zu schenken, es ist wichtig, den Tagen Leben zu geben. Und genau das hat er getan: den Tagen Leben gegeben.«
    Und dann erzähle ich eine Geschichte, die unfassbar und kitschig ist, aber sie ist wahr: »Am Tag, als mein Vater starb, flog abends eine Amsel gegen unser Fenster. Die Kinder haben versucht, sie zu retten, aber es war zu spät. Am Tag, als mein Bruder starb, holte ich die Kinder von der Schule ab. Mitten auf dem Weg lag eine tote Amsel. Gestern saß ich auf der Bank am Kurpark und weinte. Plötzlich setzte sich eine Amsel auf den Mülleimer neben mir. Sie legte den Kopf schief, sah mich an, zwitscherte laut los und flog weg. Mir stockte der Atem. Und dann kam die Amsel immer wieder in die Nähe meiner Bank. Und da wusste ich, dass es stimmt: Niemals geht man so ganz.«
    Mein älterer Sohn tritt einen Schritt vor und sagt etwas sehr liebevolles, seine tiefe Stimme ist ganz fremd, er weint. Der Jüngere versucht, sich zusammenzureißen, auch er findet wunderschöne letzte Worte für seinen Papa. Jeder in diesem Kreis sagt etwas, verabschiedet sich, jeder gibt ihm eine Erinnerung mit auf die Reise, niemand lässt ihn ohne Gruß gehen. Meine Söhne und ich stehen vor seinem Sarg, eine Handlänge von ihm entfernt, er ist da, man kann ihn noch spüren, er kann doch nicht gehen, das ist alles nicht wahr. Als ich ihm, wir ihm, den Rücken zudrehen müssen, als wir gehen, bin ich hundert Jahre alt.
    Dann steht Joe da. Unser Freund Joe, bei dem wir uns kennenlernten, der uns so viele Jahre begleitete. In seinem Arm breche ich zusammen.
    Wir fahren alle zusammen in den Biergarten, in dem Hardy ab und zu gearbeitet hat. Freunde haben eine Kaffeetafel hergerichtet, neben dem Kiosk, in dem Hardy im Sommer oft stand. Ein Foto von ihm, mit einem Trauerflor. Meine Söhne und mein Neffe schießen drei Silvesterraketen in den Himmel. Und jedes Mal rufen
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