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Vom Himmel das Helle

Vom Himmel das Helle

Titel: Vom Himmel das Helle
Autoren: Gabriele Diechler
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Zusammenspiel physiologischer Reaktionen, die die Aktivität der biologischen Systeme des Körpers überwachen.
    Doch alles der Reihe nach.
    Als ich an diesem Morgen ins Büro kam, stand fest, dass unser aktueller Fall zu den Akten gelegt werden würde. Ich bin dafür bekannt, nicht so schnell aufzugeben und selbst die kleinste Nische nach Brauchbarem zu durchforsten. Doch diesmal hatte es nicht gereicht. Eine Frau, die ein fremdes Kind zuerst entführt und später offenbar erdrosselt hatte, war spurlos verschwunden. Das Kind hatte man gefunden. Doch es gab keine Zeugen und kaum brauchbare Hinweise. Anfangs klang alles nach einem schrecklichen aber interessanten Fall. Doch wie ich es auch anging und was ich auch tat, ich konnte nichts ausrichten. Wir landeten in einer Sackgasse und ich nahm es persönlich. Ein enttäuschendes Gefühl.
    Als ich spät am Abend heimkam, kochte ich mir einen Tee und mit dem Becher in der Hand und meinen Lieblingskeksen unterm Arm enterte ich mein Büro, um zur Ruhe zu kommen. Da saß ich also, ziemlich mitgenommen von der Arbeit, noch immer das Bild des toten Kindes im Kopf, und knabberte an meinen Keksen, während ich nachdachte. In letzter Zeit wurde mein Beruf immer mehr zur Belastung. Ich fühlte mich ausgepowert, überanstrengt, innerlich leer. Der unaufgeklärte Fall heute hatte mir den Rest gegeben. Ich dachte zum ersten Mal darüber nach, alles hinzuschmeißen, um etwas völlig Neues zu beginnen. Nicht länger nur mit Toten konfrontiert zu sein, erschien mir plötzlich derart verführerisch, dass ich ein Jahr Auszeit oder sogar eine späte Karriere als Illustratorin oder Sounddesignerin – für beides interessierte ich mich sehr – nicht mehr ausschließen mochte. Doch das war natürlich ein völlig schräger, unannehmbarer Gedanke. Schließlich musste ich die Miete und die Leasingraten für den Wagen zahlen und für meine Reisen in ferne Länder sparen, die mir so am Herzen lagen.
    Außerdem lag es nicht nur an meiner Arbeit. Wo ich schon mal dabei war, reinen Tisch zu machen: Wann hatte ich das letzte Mal Herzflattern verspürt und mich in den Armen eines Mannes vergessen? Musste eine gefühlte Ewigkeit her sein. Plötzlich überflutete mich eine Welle puren Verlangens. Wo und wann hatte ich das Glück verloren? Wieso klappte es nicht mit den Männern? Ein drängendes Gefühl wie dieses würde ich nicht mit Schokokeksen stillen können.
    Mitten in meine Überlegungen hinein hörte ich plötzlich eine Stimme. Warm und sehr verführerisch. Es war die Stimme eines Mannes und Hören ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck dafür, was mir geschah. Rückblickend vermute ich, dass ich das, was ich wahrnahm, nicht mit den Ohren registrierte, – eindeutig das Organ, das fürs Hören zuständig ist –, sondern mit einem anderen Teil meines Körpers. Welcher genau es war, kann ich nur vermuten. Am ehesten das Herz. Ich nahm etwas wahr, das mich an die Gegenwart eines Mannes denken ließ, obwohl sich niemand außer mir im Raum befand. Jemand nannte mich beim Namen, ohne dass ich ihn sah. Aber ich fühlte, dass dieser Jemand mich kannte und vermutlich deshalb meinen Namen mit seinem Gefühl nachbildete. Eine Art Blaupause legte sich als zweite Gegenwart über meine erste. Ich griff nach dem letzten Keks und biss, eher mechanisch, als tatsächlich gewollt, hinein.
    »Hallo, Lea.« Kurze Pause. Dann: »Denk nicht so viel nach. Sorgen und Ärger lohnen nicht. Außerdem graben sie nur unschöne Falten in deine süße Stirn. Hab Vertrauen.« Ich ließ den Keks fallen und fuhr herum wie von der Tarantel gestochen. Mit dem Rest Normalfunktion, der mir geblieben war, stellte ich fest, dass bei mir die Region der Amygdala, das Angstzentrum mitten im emotionalen Teil des Gehirns, das wir mit Reptilien gemeinsam haben, aktiviert war. Die nackte Angst hatte mich so energisch gepackt, wie ich es selten erlebte.
    Mein Leben schien einen Moment still zu stehen, absolut still, bevor ich weiter nachdachte. Was passierte gerade? Wer oder was hatte mich angesprochen und mir diesen Satz, dass ich mir keine Gedanken machen soll, zugeflüstert? Und wieso erwähnte derjenige meine süße Stirn? Mit unverhohlenem Misstrauen sah ich mich in meinem Büro um. Dem Raum, den ich täglich aufsuchte und der mein eigentliches Zuhause war. Schon deshalb, weil ich in ihm die meiste Zeit des Tages und oft genug der Nacht zubrachte. Doch es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Ich sah meine Ordner in der prall
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