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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Eingang. »Alle Wessis sind Scheiße!!!«, stand auf seiner Backsteinwand.
    Die Bahnhofsgaststätte hatte geschlossen, das erste Wirtschaftsunternehmen in der Bahnhofstraße war ein Bestattungsinstitut. Der Sänger DJ Ötzi war auf Plakaten angekündigt, er sollte im Sommer in der Stadthalle auftreten. Dann würden sich zwei treffen, die ihren Zenit überschritten hatten, und sie würden gemeinsam tanzen, Torgelow aus Ostvorpommern und Ötzi aus Tirol. Ansonsten war hier alles deutsch: Eines der teureren Gerichte bei Mama Mia hieß »Pizza Prachtvoll«, und in Torgelow schnitten noch deutsche Männer Dönerfleisch vom Spieß. Das Raucherstübchen bot Tomatensuppe mit Brot für einen Euro an. Warum sollte in Torgelow jemand seine Tomaten da noch selbst anbauen?
    Ich sprach auf die Mailbox meines Handys, ich sei für ein Vierteljahr verreist und nicht erreichbar. Nicht erreichbar! Dem kleinen Piepmatz diesen Satz ins Ohr zu sprechen, den »Aus«-Knopf zu drücken und es ernst zu meinen, das brachte ein Glücksgefühl.
    Ganz andere Signale sendete mein Zahn. Er schmerzte bis in die Schläfen, denn kurz vor Reisebeginn hatte ich eine Wurzelbehandlung gehabt, um dann für die kommenden drei Monate die Krankenversicherung zu kündigen. So viel Integrationsbereitschaft musste sein auf einer Reise ins einfache Leben, die ja auch ein Selbstversuch war.
    Auch in Torgelow war der erste Eindruck enttäuschend: nirgends eine Kommune, keine Selbstversorger, kein Bundesrichter, der zur Bio-Zucchini konvertiert war. Ich suchte im Rathaus Rat. Letzte Tür links, da saß Herr Blume, der Pressesprecher der Stadt Torgelow. »Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob es solche Leute noch gibt«, sagte Herr Blume.
    Ich betrat eine Bäckerei und fragte nach alternativem Leben. Ein Gast meinte, »so Leute« gebe es fünf Kilometer stadtauswärts. Ich folgte der Spur. Entlang der Straße zum Friedhof standen auf Rasenparzellen, die aussahen wie in Fertighausprospekten, weiße quadratische Häuser, konfektioniert wie Oberhemden aus dem Otto-Katalog. Die Sparkasse wollte sie loswerden, dann doch für fünfundsiebzigtausend Euro.
    Hinter dem Friedhof führte ein Weg links in den Wald. Aus dem Wald führte ein Steg wieder heraus. Er trug meine Füße trocken über feuchtes Grünland, auf dem Ziegen weideten. Weiter vorn tat sich ein Wall auf, der mit gen Himmel gerichteten Stammspitzen gegen Angreifer geschützt war. Das konnte so einen Abenteurer wie mich nicht zurückhalten. Ich durchschritt den Wall durch eine Pforte. Dahinter eröffnete sich ein Blick auf Lehmhütten, Rieddächer, Strohballen und Feuerstellen. Oh, was gab es für sonderbare Aussteiger in diesem Landstrich! Auf dem Boden hatten sie eine Steinspirale ausgelegt. War wohl ein ritueller Ort. Doch Eispapier lag auf dem fein gemulchten Grund. Es war ein Museumsdorf. Ein Ukranenland für Grundschüler.
    Das Dorf war verlassen, doch in einer Schmiede standen noch zwei Ukranen in grünen Gewändern. Sie tranken Bier aus Plastikflaschen und sagten, ich sei zu spät, um das Museumsdorf zu besichtigen. Und zu spät, um den Aussteiger zu besichtigen. Bis vor drei Jahren habe hier ein Mann aus Bremen gelebt, ein früherer Mitarbeiter von BMW. Er sei Mitte vierzig gewesen, habe allein seine slawische Hütte erbaut und darin einen Winter und einen Sommer lang gelebt wie die Menschen vor tausendvierhundert Jahren. Der Mann war weg, die Hütte war noch da und in den Besitz des Museums übergegangen. Sie hatte eine Holzliegefläche zum Schlafen, im Herzen eine Feuerstelle, die überhangen war mit Wildschweinfell, damit keine Funken das Strohdach entzünden konnten. In einer Ecke stand ein Holzkasten-Klo, darunter ein Eimer. Nach seinem Jahr im Ukranenland, habe man gehört, zog der Sonderling nach Sri Lanka, lernte eine Frau kennen und bezog mit ihr eine Villa, erzählte einer der Männer in den grünen Gewändern. Vielleicht war ihm das Leben als Germane unterm Wildschweinfell doch nicht »sorgenfrei« genug. Aus der Enge der Büros heraus betrachtet, schillerten die Ideen vom Landleben oft wunderbar, doch aus der Unsicherheit des Menschen, der in der Welt ohne Versicherungen und Bezüge lebte, schienen die Büros dann wieder wie Schutzkokons. Der Germane lag jetzt wohl an einem Südseestrand.
    Berlin verloren, Grünz gewonnen: Siedler in der Uckermark
    Ein Zug brachte mich nach Prenzlau, von dort fuhr der Bus nach Grünz, das deshalb mein nächstes Ziel war, weil es dort einen abgelegenen Gasthof
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