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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Gegenwert von einer Stunde Arbeitszeit. Ein Glas Tomatensoße kostete vier Uckertaler. Es war eine komplizierte Rechnung, die dem Preis zugrunde lag, schließlich stecken Samennachzucht, Aufzucht, Umpflanzarbeit, Kompostgewinnung, Ernte und Einkochzeit in der Tomatensoße, aber am Ende hatten die Tomatenbauern berechnet, dass sie für ein Glas eine Viertelstunde gearbeitet hatten. Preisunterschiede waren zugelassen und gewollt, von der Planwirtschaft hatten die meisten Siedler auch genug. Das Modell Uckertausch schien nicht nur für die Uckermark interessant.
    Eigentlich hatte Thomas, der jetzt von der Arbeit zurückgekommen war, nicht aufs Land hinausgewollt. Er war ein Berliner. Thomas hatte einen roten Vollbart und rote Haare, die genauso schulterlang waren wie die seiner Frau und genau an derselben Stelle etwas links von der Kopfmitte gescheitelt. Er trug eine graue Arbeitshose und einen Fleecepullover, blieb still und wirkte, obwohl er freundlich war, als lege er keinen großen Wert auf meinen Besuch. Nicht, weil er misstrauisch war oder verschlossen, sondern weil er zu tun hatte. Er stand am Gasherd und briet etwas aus Karotten, neben dem Herd lag die aktuelle Zeit . Gleich würde die jüngste Tochter vom Gymnasium aus Löcknitz zurückkommen, der Schulbus fuhr eineinhalb Stunden.
    Mit den Kindern war der Ausstieg nicht einfach gewesen: Die beiden älteren Töchter, die im Grundschulalter waren, weinten bitterlich, sie wollten zurück nach Berlin und verstanden nicht, was der Exodus sollte. Im Winter, wenn es um vier Uhr dunkel wurde und in der Uckermark oft minus zwanzig Grad kalt war, lasen die Eltern viel und gingen meist um sie ben oder acht Uhr abends schlafen, und die Mädchen schrieben Briefe an ihre Freundinnen in Prenzlauer Berg. Draußen war das Land dunkel, und drinnen beheizten sie nur einen Raum. »Man kann davon auch mal die Schnauze voll haben«, sagte Thomas. »Dieses Ganz-klein-Werden vor dieser Gewalt da draußen ist wunderbar«, sagte Sabine, »aber unsere Kinder mussten vieles mitmachen dafür, dass ihre schrulligen Eltern ihre Träume verwirklichen.« Sie hatte noch heute manchmal ein schlechtes Gewissen.
    Wer aus seinem alten Leben absprang, musste sich meist mit dem Vorwurf des Egoismus auseinandersetzen, für die eigene Freiheit verloren Beziehungen an Intensität oder andere Menschen an Freiheit. Auch Ernst Wiecherts Romanfigur ließ seinen Sohn in der Stadt zurück, und die nationalsozialistische Presse fand Wiecherts Buch Das einfache Leben daher »egoistisch«: eine Absage an die Volksgemeinschaft. Dafür versöhnten die schwülstigen Heimatbeschreibungen die völkische Zensur, sodass das Werk letztlich nicht verboten wurde.
    Sabine schrieb mir noch eine Telefonnummer von einem befreundeten Paar auf: »Echte Aussteiger.« Sie lebten ganz in der Nähe und waren einverstanden, dass ich sie am folgenden Tag besuchte.
    Abendessen im Deutschen Haus. Schweinebraten. Ein Geschäftsreisender aus Schleswig-Holstein saß neben mir, er aß Schweinesülze und erzählte von seiner Kindheit hier in Ostpommern, nur ein paar Kilometer weiter in einem Ort, der heute in Polen liegt. Am 30. Januar 1945, in einer sternklaren Eisnacht, flüchtete seine Mutter mit ihm und seinen drei Geschwistern, darunter war auch ein Säugling, auf dem Pferdewagen in Richtung Westen. Die Maschinengewehre der Russen waren schon zu hören, die Familie schlief die erste Nacht der Flucht im Wald, am nächsten Tag marschierten sie weiter, der Wagen brach im Haff ins Eis, die Russen holten sie ein, ein Soldat nahm die Mutter an die Hand und zog sie davon, sie nahm ihren fünfjährigen Sohn an die Hand und schleifte ihn zum eigenen Schutz mit, trotzdem schleppte der Rotarmist sie beide in die nächste Scheune und vergewaltigte die Frau, dem Kind gab er zur Beruhigung ein Stück trockenes Brot, und als die Front vorbeigezogen war, zogen Mutter und Kinder wieder auf den ostpommerschen Hof zurück, den sie bald in Polen zurücklassen mussten, doch sie durften weiterleben.
    In dieser Gegend hatte es einen faden Beigeschmack, als Wohlstandskind vom einfachen Leben zu träumen. Ostelbien hatte ein paar tausend Jahre hartes Landleben hinter sich, Feudalismus, Naziterror, Vertreibung, Sozialismus, Landflucht. Eine Verklärung des verzichtvollen Lebens schien hier geschichtsvergessen, zynisch.
    Feigen aus dem Garten, Botschaften aus dem Jenseits
    Der Bus fuhr am nächsten Morgen nicht. Zwei auf dem Fahrplan kleingedruckte Ziffern, 2
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