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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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gab, das Deutsche Haus nahe der polnischen Grenze.
    Bloß dienstags und freitags fuhr dieser Bus, und es war ein Glück, dass Dienstag war. Der Bus war kein Bus, sondern ein Taxi und fuhr durch ein ozeanisch weites Rapsfeld. Die Energiewende zeigte sich blühend, sie erinnerte daran, dass das Erdöl nicht ewig sein würde. Zwar sagten das die Zivilisationsskeptiker schon seit Jahrzehnten, aber dass sie doch irgendwann mal recht haben sollten und der Wohlstand vom Öl abhing, war ja sonnenklar. Windräder warfen ihre Schatten auf die gelben Felder, der Raps nahm kein Ende, und das Taxi überquerte die Gaspipeline Nord Stream, die aus Russland kam, hier noch eine Baustelle war und bald die europäische Energieversorgung sicherstellen sollte.
    Das Taxi fuhr unter einer Brücke der Autobahn A 11 hindurch, die Berlin mit Stettin verbindet und von der es heißt, sie sei in den achtziger Jahren noch so wenig befahren gewesen, dass Bauern Strohballen auf der rechten Fahrspur gelagert und Kinder dazwischen Federball gespielt hätten.
    Im Deutschen Haus antwortete die Wirtin auf die Aussteigerfrage: »Meinen Sie so Leudde, die aus Berlin hierherkommen und nich mehr arbeiten? Jo, kann soin, dat es die hier gibt, aber ich weiß nich, wo.« Sie ging in die Küche, wo die Köchin Schweinebraten mit Gewürzen spickte, lieh mir für die Suche ihr Fahrrad, und ich fuhr die Dorfstraße hinab. Das Dorf Grünz bestand nur aus dieser einen Allee und aus einer abzweigenden Straße. Auf einem Plan stand, dass einmal im Monat der Büchereibus kam und zwanzig Minuten blieb. Hätte es das Internet noch nicht gegeben, wäre es für einen Menschen in Grünz kaum möglich gewesen, nicht zum Hinterwäldler zu werden. Nun relativierte sich die Distanz von Stadt und Land.
    Die Dorfstraße führte bergab zu einem See. An einer Hofeinfahrt stand eine Frau, die eine beigefarbene Weste aus dicker Wolle trug, eine blaue Arbeitshose, einfache Arbeitskleidung einer Landwitwe von 1950. Sie trug eine Brille, ihr Haar war lang und grau. Sie wirkte wie eine Frau, die die Härten des Lebens kennengelernt und sich ihren Frieden trotzdem bewahrt hatte. Sie sah so aus, als sei sie zugezogen, aber arbeitete trotzdem.
    »Was suchen Sie?«, fragte sie über die Gartenpforte.
    »Wahrscheinlich Sie.«
    »Mich?«
    Über gemähten Rasen, in dem wilde Kräuterinseln standen und auf dem ein Ständer mit Wäsche zum Trocknen hing, gingen Sabine und ich ins Haus, dessen Backstein an manchen Stellen so hell war, als sei er mit Kreidewasser überstrichen worden. In der Stube knisterte der Kamin. Das Inventar war teilweise antik, teils dreißiger Jahre, fünfziger, siebziger. Das meiste kam von Flohmärkten. Unter den Fensterbänken standen Setzkästen mit Gemüsekeimlingen. Im Badezimmer stand eine Emaillewanne auf Zierbeinchen wie aus einem Film der Vorkriegszeit. Draußen befand sich der alte Schweinestall, der jetzt die Galerie der Landarbeiterin war. Von ihrer Malerei lebte sie aber nicht, sondern vom Garten und von drei Tagen, an denen sie im Bioladen in Prenzlau arbeitete.
    Zum Tee gab es Kuchenreste. Wir froren, obwohl der Ofen sein Bestes gab, und wärmten unsere Hände an den Teetassen. Sabine war in Berlin aufgewachsen. Sie lebte hier mit ihrem Mann Thomas, der gleich von einer Lehmhaus-Baustelle wiederkäme, wo er arbeitete. Dieser schöne Hof hatte Sabine und ihren Mann fast nichts gekostet, aber sie mussten mutig sein und viel Arbeit auf sich nehmen. Als sie hierherkamen, hatten sie auch fast nichts. Sie waren typische Wendeverlierer, 1989 begann für sie der materielle Abstieg. Als die Berliner Mauer fiel, lebte Sabine mit ihrem damaligen Mann und ihren zwei Kindern noch in einer großen Mietwohnung in Prenzlauer Berg, doch die Mieten schossen hoch wie Aktienkurse, und schnell kostete die Wohnung mehr als fünfhundert Mark statt hundert. Sabine war zweiunddreißig, Ostberlin in Aufbruchsstimmung, aber sie kam schnell zu der Auffassung, dass sie im falschen Boot saß: zu alt und zu gebunden, um mit aufzubre chen. Als Bibliothekarin bekam sie keinen Job. Der wachsen de Wohlstand Ostberlins drohte Sabine und Thomas aus der Stadtmitte herauszuspülen wie Wellen Muschelreste an einen Strand. Das freie Deutschland schien für Sabine und Thomas einen Plan zu haben, der mit ihren Vorstellungen nicht zusammenpasste: Plattenbau, Marzahn oder Neukölln. Sabine fiel eine Zeitschrift in die Hände, in der Aussteiger porträtiert waren, unter anderem stand darin die
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