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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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inspirierten Siedler, die für mich ein Selbstversuch war, vielleicht eine Reise in die Zukunft, in jedem Fall auch ein Abstecher in die lebendig gebliebene Ideengeschichte, beginnt mit einer Suche nach einfachem Leben in Mecklenburg-Vorpommern.

Ostvorpommern: Auf der Suche nach Alternativen
    Die graue Ostsee und der graue Himmel waren am Horizont fast eins geworden. Die Felder lagen weit und leer. Lastwagen fuhren auf einer Straße, die die Boddenwiesen durchschnitt. Als sich Himmel und Erde am Horizont hinter einem Schleier aus Regen immer näher kamen, legte sich das Bild einer dicken Frau über das Naturschauspiel. Sie trug eine blaue Uniform. Die Kontrolleurin spiegelte sich im Zugfenster und fragte nach meiner Fahrkarte.
    Leise rollte die Bäderbahn über Usedom, sie hatte ein Herz für die Prärie und hielt an jedem menschenverlassenen Bahnsteig. Die Kontrolleurin nickte und wollte weitergehen, da fragte ich sie, ob sie wisse, wo auf der Insel es alternative Hofgemeinschaften gebe. Das wusste sie nicht, aber vielleicht jemand in Stubbenfelde, das sei ländlich und weniger touristisch als die anderen Orte. Ich ließ die Ostsee und den Himmel aus dem Blick, denn ich war nicht hier auf der Insel, um die Freiheit des Himmels zu suchen, sondern die Freiheit der Menschen.
    Regen und Wind begrüßten mich in Stubbenfelde, vom Bahnsteig ging ich über ein Feldsträßchen von Haus zu Haus. Friedliche Tauben kreisten über den Wohnhäusern. Regentröpfchen trugen Meeresdüfte von Salz und Algen durch die Luft. Wenn mir mal ein Mensch entgegenkam, fragte ich nach Aussteigern.
    »Wat suchen Sie?«, wunderte sich eine Gemüsearbeiterin, die in dem Vorgarten mit dem Taubenstall stand.
    »Nee, Kommune, so wat gibt hier nicht«, sagte ein alter Mann, der hölzern von seinem Hollandrad abstieg.
    »Nö, ham wir nich«, sagte die Postbotin.
    Ich hatte schweres Gepäck und stieg in die nächste Bäderbahn, die wieder zurückfuhr und hinein ins arme Land. Usedomer Inselbäder zogen vorbei. Jetzt war ein Stau auf der Landstraße. Viele Autos hatten fremde Kennzeichen, Polen kamen zum Urlaub und Dortmunder und Münchner. Diese Insel florierte und dachte nicht ans knapper werdende Erdöl. Alternatives Leben auf Usedom zu suchen, das war keine gute Idee. Aber im Hinterland würde die vergangene Welt der Kleinbauern, Künstler und Klöster dann ja vielleicht beginnen, eine Reise zu Menschen, die schon immer wenig gehabt, schon immer Kultur hervorgebracht hatten, die heute die Letzten ihrer Art waren – oder doch wieder Avantgarde.
    Die Reise ins einfache Leben fing in Ostvorpommern an, also dort, wo auch das Spiel »Mensch ärgere Dich nicht« beginnt: ganz in der Ecke. In dieser Ecke war das Leben nicht leicht. Es gab Landflucht und Arbeitslosigkeit, aber das konnte ein guter Nährboden für neues Leben sein, das freiwillig einfach war. Ostvorpommerns verlassene Höfe und das weite Land muss ten Menschen anziehen, die wieder von der freien Feldarbeit träumten, so wie Ernst Wiechert in den frühen dreißiger Jahren, die hierhergezogen waren, um ihren flachen Fernseher und ihre goldene Verbeamtungsurkunde und ihre Zahnzusatzversicherung über Bord zu werfen, damit Freiräume entstehen, die wieder vom Leben ausgefüllt werden können. Denn in Ostvorpommern gab es mittlerweile Bauernhöfe für fünfundzwanzigtausend Euro, halb zerfallen oder ganz in Ordnung, und dazu so viel Land, wie es ein Mensch benötigt, um sich selbst zu versorgen. In Frankfurt kostete eine Autogarage so viel. In Zwangsversteigerungen sollen Vorpommer’sche Höfe schon für fünftausend Euro verkauft worden sein. Es wäre möglich, sein Reihenhaus im Westen für zweihunderttausend Euro abzugeben, hier einen schönen alten Hof zu kaufen und von Gartenarbeit und vom Aldi bis zum Tod zu leben. »Sorgenfrei«, »ausgesorgt« – zwei Lebensziele, die doch eigentlich weit oben standen in der bürgerlichen Lebensagenda.
    Ein Regionalexpress fuhr von Züssow aus weiter ins Hinterland. Anders als die ruhige Bäderbahn quietschte er und klang nach Schwermetall und Hydraulik. Der Zug durchquerte Raps felder, die bis zum Sichthorizont reichten, dann Birkenwälder, dann wieder Rapsfelder. In den Orten standen, zwanzig Jahre danach, immer noch sozialistische Betonruinen, sie waren von guter Qualität.
    Weil ihr Name melancholisch klang und sie weit genug vom Tourismus der Küste entfernt war, blieb ich eine Nacht in der Stadt Torgelow. Ein heruntergekommener Bahnhof war ihr
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