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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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das Stroh, Häufchen für Häufchen, mit den Händen in den Stall hinein. Er hielt nicht viel von Heugabeln, er meinte, sie würden diese Arbeit nicht erleichtern. Er erzählte mir von seinem großen Prozess: Er hatte gegen die Grundsteuer geklagt. Er war vor Gericht gezogen, weil diese Steuer ihn so empört hatte, obwohl er sie als Mieter selbst gar nicht zahlen musste. Es ging ihm um die Sache: Denn Gott, so seine Argumentation, sei Eigentümer allen Grundes, und von daher dürfe wohl vielleicht Gott – den es laut der Präambel des Grundgesetzes, die ihn ausdrücklich nennt, ja gebe –, dürfe also zwar Gott eine Grundsteuer verlangen, niemals aber eine staatliche Instanz. Die Verfassungsklage wurde abgewiesen. Das erhöhte Reiners Groll auf das deutsche Rechtssystem. Immerhin spendeten ihm Sympathisanten einige Euro Prozesskostenhilfe. Ein Unbekannter, der von dem Fall gelesen hatte, überwies sogar fünfhundert Euro. Reiner erzählte das mit großem Ernst. Was ihn wohl antrieb?
    Nachdem wir das Stroh in den Stall gebracht hatten, gingen wir mit den Hunden im Wald spazieren. Es war schöner Urwald, mal nicht so ein dünner Holzindustriewald. Die Hunde witterten des Öfteren Wild und wollten es jagen, aber sie konnten nicht, denn Reiner führte sie an langen Leinen.
    »In jedem Menschen ist ein Gottesfunken, ein Gewissen«, sagte er, »und wenn man im Sinne dieser Stimme handelt, weiß man immer die richtigen Lösungen.« Etwa so: Einmal hatte er Zahnweh, der Zahn eiterte. Die innere Stimme sagte ihm: Trink Tee aus bestimmten Gartenkräutern. Er trank diesen Tee und hatte am nächsten Tag keine Schmerzen mehr.
    Wir gingen weiter in den Wald hinein. Es war so ein Ernst-Bloch-Märchenwald: Aber wir gehen im Wald und fühlen, wir sind oder könnten sein, was der Wald träumt.
    Plötzlich standen wir inmitten eines grün bewachsenen Kraters, der einen Durchmesser von etwa sechzig Metern hatte. Das sei ein alter slawischer Wall, sagte Reiner. Der stamme noch von den Ukranen. Das war mal etwas Echtes, nicht nur ein Museumsdorf.
    Im Winter hatte Benno, der Bernhardinerhund, in diesem Waldstück ein Reh gejagt. Er fasste es und biss es tot. Das Reh wurde eingefroren und später an die Hunde verfüttert. Es gehöre zur artgerechten Tierhaltung, dass Jagdhunde auch jagen dürften, sagte Reiner.
    Er war in letzter Zeit viel mit Gott beschäftigt. Er übersetzte alte Texte, die er für Offenbarungen hielt, in ein zeitgemäßes Deutsch und stellte sie dann ins Internet. Er hatte vom Atheismus zur christlichen Theosophie gefunden, zu Büchern wie Dreißig Jahre unter den Toten von Emanuel Swedenborg. Der hatte behauptet, im Jenseits gewesen zu sein, und berichtete in dem Buch darüber. Reiners Transskription zufolge widerrief Luther seine Rechtfertigungslehre im Jenseits, jene Rechtfertigungslehre, die auf die große Frage, wie der in Schuld verstrickte Mensch sein Seelenheil wiederfinden konnte, mit der Formel »sola fide« geantwortet hatte, durch den Glauben an Christus und Gott allein. Das gute Tun des Menschen sei nicht ursächlich für die Vergebung, sondern die Gnade Gottes. Der Mensch könne Gottes Vergebung nicht durch gute Werke verdienen, sondern die Vergebung gehe all unserem Tun voraus. Katholiken glauben hingegen, die Sünde könne von Gott trennen. Und sie haben wohl Recht, wie Emanuel Swedenborg bereits gegen 1700 und Reiner Mey seit einiger Zeit wussten.
    Reiner sagte, als wir weiter durch den Wald spazierten, die Hunde immer kecker an ihren Leinen zerrten und sein Haar im Abendwind wehte wie die Flagge in der Hand einer Freiheitskämpferin, auch ein anderer Prophet sei im Jenseits zum Christentum konvertiert, gegen 1500. Und mir kam es recht merkwürdig vor, dass jener Prophet nach seinem Tod erst so viele Jahrhunderte darüber nachgedacht hatte.
    Als uns die Hunde aus dem Wald wieder zurück in Richtung Paradies zogen, sagte Reiner, die katholische Kirche sei mit dem Teufel in einem engen Bunde, sie sei der eigentliche Antichrist, denn sie predige Armut und Demut und lebe selbst in Prunk und Hochmut. Er war also kein Lutheraner, auch kein Katholik, sondern wohl ein autonomer Christ. Es schien schwer möglich zu sein, in wenigen Stunden die Reiner’sche Theologie zu verstehen. Vielleicht war sie auch nicht zu verstehen, weil sie verrückt war. Aber so schnell zu sagen, irgendwas sei verrückt, war wiederum eine sehr bürgerliche und bequeme Lösung, auf diesen Reflex wollte ich auf meiner Reise verzichten.
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