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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Dass die selbsternannten Vernünftigen denen nicht mehr ernsthaft zuhören, die sie als verrückt bezeichnen, kann beiden nicht weiterhelfen und der Wahrheit nicht dienen. Michel Foucault hat das sehr gut beschrieben: wie die Brücke, die von der Vernunft zum Wahnsinn führte und zurück, in den vergangenen Jahrhunderten Stein für Stein eingestürzt ist. Heute lachen die Vernünftigen etwas zu laut über die Randständigen. Für Foucault ist das ein Zeichen dafür, dass die Vernünftigen selbst bereits Wahnsinnige sind. Wahnsinn und Vernunft könnten einander in Frage stellen und nur so einander retten, sie hingen untrennbar miteinander zusammen. Wer die Unvernunft des Menschen negiere, mache letztlich nie von der eigenen Vernunft Gebrauch. Foucault sah das Delirium als Dienerin der Vernunft. Die Ironie wäre dann nur ein Mittel, um sich selbst als Beobachter zu positionieren und sich aus der Gefahrenzone zu bringen.
    Neben der Propheterie war Reiner, der früher ein strenggläubiger Atheist gewesen war, gelegentlich mit Gerichtsprozessen beschäftigt. »Ich habe nicht Jura studiert, aber ich kriege aufgezeigt, was ich lesen soll«, sagte er. Er hörte auf seine innere Stimme, folgte den Anweisungen und vertrat sich mit dem so angeeigneten Wissen selbst vor Gericht. Früher hatte er auch Buchkataloge durchgeblättert und ein Pendel über die Seiten gehalten. Er befragte das Pendel, welches Buch er bestellen sollte, um die Zusammenhänge zwischen Gott und der Welt zu verstehen, und das Pendel schlug an den entsprechenden Katalogstellen aus.
    Das war vor ein paar Jahren gewesen. Inzwischen lehnte er spiritistische Praktiken wie das Gläserrücken oder auch den Gebrauch des Pendels ab. Gott wohne in jedem Wesen, und wenn man etwas wissen wolle, solle man sich direkt an ihn wenden und nicht an irgendwelche Geistwesen, »deren Motive und Beweggründe« dafür, ein Pendel ausschlagen zu lassen, man nicht kenne.
    Reiner war aber weiterhin versessen darauf, sich mit Autoritäten anzulegen. Eine erste in seinem Leben war seine Mutter, die unter Tränen zusammengebrochen war, als er erklärt hatte, den Kriegsdienst verweigern zu wollen. Sie war Bäckerin und fürchtete, ihr Geschäft schließen zu müssen, wenn sich die Sache im Ort herumspreche. Reiners Haar war schon damals so lang gewesen wie heute. »Geh doch rüber«, sagten die Bürgerlichen in der Bundesrepublik seinerzeit gern zu Langhaarigen wie ihm. Nun war er drüben.
    Nach dem Abitur studierte Reiner Mey Grafikdesign und fertigte später gern grafische Arbeiten für die alternative Szene an, etwa gegen die militärischen Tiefflüge. Einmal habe er auch Werbung für einen Pharmakonzern gemacht, doch er habe Gewissensbisse bekommen und das nie wieder getan.
    Hier im Paradies war Reiner der V-Mann zu Gott. Heike hingegen arbeitete mehr im Garten. Für das Überleben auf dem Selbstversorgerhof war das auch die wichtigere Aufgabe. Heike hatte dieses Leben aus einem hedonistischen Motiv gewählt; das harte Landleben tat ihr gut. Reiner war eher politisch und soziologisch sendungsbewusst, und von hier konnte er störungsfrei von oben empfangen und nach draußen senden.
    Bereits seit vierzehn Jahren lebten die beiden in dieser Abgeschiedenheit. Sie mussten kaum mehr etwas aus dem Supermarkt kaufen und brauchten fast kein Geld. Nur fünfzig Euro zahlten sie monatlich als Miete für den Hof, die nahmen sie von Reiners Ersparnissen. Dem Vermieter war es recht, dass das Gebäude überhaupt bewohnt war, und die Mieter hatten auch schon viel renoviert. Sie hatten keinen Pachtvertrag, sie und der Vermieter vertrauten einander. Siebzig Euro betrug die monatliche Stromrechnung, die Tiefkühltruhe war eine teure Mitbewohnerin, auf die wollten die beiden aber nicht verzichten. Rund zwanzig Euro im Monat kamen fürs Holz hinzu, mit dem sie fünf Räume nach Bedarf beheizten: Bad, Gewächshaus, Gemeinschaftsraum, die beiden Wohnhäuschen. Das Auto war am geldhungrigsten, fünfhundert Euro im Jahr plus Spritkosten. Etwa jeden zweiten Tag fuhren sie irgendwohin, zum Einkaufen, Tauschen, zum Volleyballtraining mit anderen Aussteigern in einer alten DDR-Sporthalle.
    Vom Arbeitslosengeld hätten sie besser leben können, aber das wollten sie nicht. Reiners Geld reichte noch aus, er hatte vor dem Einzug ins Paradies sein Haus verkauft. Das Geld, sagte er, liege unverzinst auf dem Sparkonto. Denn mit Zinsen wolle er nichts zu tun haben. Darüber nachgedacht, was werde, wenn sein Erspartes
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