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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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entsprach auch nicht ihrem Bild davon, was in Zukunft wichtig sei. Reiner sah die nahe Zukunft der Weltwirtschaft in Tauschökonomien, im Zeitalter nach dem Erdöl. In dieser Welt gab es wenige Autos, und die fuhren ohne Benzin, es gab auch keine Sozialhilfe mehr, keine Entwicklungshilfe, keine Arbeitslosen, keine Staaten, sondern Gemeinschaften, so wie im Utopia der französischen Pamphletisten, die mit der Flugschrift »Der kommende Aufstand« derzeit viele Anhänger für solch ein Reich der Kommunen fanden, eine Zukunft »in strukturlosem Beisammensein und lokalem Basteln« (Jürgen Kaube).
    »Interessanterweise gibt es nirgendwo einen Hinweis darauf, dass Gott Staaten wollte«, fuhr Reiner fort. Jede Gemeinde müsste den eigenen Müll selbst entsorgen, überhaupt übernahm jeder Mensch und jede Gemeinschaft die Verantwortung für sein und ihr Handeln. »In der Bibel kann man nachlesen, dass die Kinder Gottes in kleinen Gemeinden lebten und keinen Herrscher über sich hatten. Lediglich ein Richter, ein Mensch, der auf die Stimme Gottes hörte und so die göttlichen Gebote achtete und in der Gemeinschaft durchsetzte, war für das Recht verantwortlich.« Nach der angeblichen Verkündung Gottes an Franz Schumi, an die Reiner glaubte, werde es künftig keine Staaten mehr geben, sondern kleine Gemeinschaften, in der alle notwendigen Lebensmittel angebaut und hergestellt werden.
    Diese Utopie traf wunde Punkte des Kapitalismus, den mancher als System der organisierten Verantwortungslosigkeit ansieht, weil dann Macht und Verantwortung zu oft in keinem Zusammenhang mehr stehen. Im Tauschring erhielten die Leute größere Wertschätzung für ihre Arbeit als durch reinen Geldlohn.
    Es war bemerkenswert, wie gastfreundlich und offen die beiden waren. Man muss sich den unangekündigten Besuch eines Fremden in einem deutschen Reihensiedlungshaus vorstellen: »Guten Tag, ich möchte ein Buch über das Leben deutscher Reihenhausbewohner schreiben und ab morgen ein paar Tage bei euch zu Gast sein.«
    Ich schlief in einem Bauwagen, der »Gästezimmer« hieß. Nachts zirpten die Grillen, obwohl es nicht sehr warm war; der Himmel war schwarz, und die Bäume waren superschwarz. Die Nachtigall sang wie bei Eichendorff, aber vielleicht war es auch gar keine Nachtigall.
    Am nächsten Morgen gab es Frühstückseier, deren Eigelbe eine satte, ins Orangerot gehende Färbung hatten. Ich erinnerte mich daran, was die Hühner zu fressen bekamen, und aß mit gezügeltem Appetit. Auf dem Etikett des Kirschmarmeladenglases, das auf dem Esstisch stand, war geschrieben: »Die Herstellung dieser Ware hat mich etwa ½ Stunde meiner Lebenszeit gekostet. Sie hat demnach einen Wert von sechs Uckertalern.«
    Mitte der neunziger Jahre waren die beiden, gerade frisch verliebt, auf der Suche nach einer alternativen Lebensgemeinschaft. Sie begannen ihre Reise auch ganz im Nordosten. Sie kamen nicht weit. Sie mieteten den verfallenen Hof und lebten erst mehr als fünf Monate in ihrem Campingwagen. Sie hatten keinen Strom und bauten den Hof um. Sieben Container voller Schutt fuhren sie weg. Nach fünfzehn Jahren hatten sie sich jetzt schon sehr vom Leben in der Stadt entfremdet. Sie redeten von ihr wie von Babylon. Heike sagte, sie mache das Großstadtleben krank. Zweimal im Jahr besuchte sie ihre Mutter und Freunde in Hamburg. Sie genoss diese Zeit in der alten Heimat. Aber sie empfand den Lärm, Konsum und Stress der Leute als lebensfern.
    Reiner äußerte sich weniger diplomatisch: »Ich sehe die Stadt als eine Anhäufung von Schmarotzern, als eine Ansammlung von Leuten, die von den Herrschenden profitieren wollen. Das war immer schon so. Die Landbevölkerung soll den Städtern dienlich sein, Lebensmittel anbauen, Kohle abbauen, Holz fällen, Metall herstellen.« Er sagte weiter: »Die Stadt verleitet zum Konsum und letztlich zu Alkohol, zu Drogen und zur Ablenkung vom eigentlichen Sinn des Lebens. In der Stadt wird ja im engeren Sinne fast nichts erarbeitet, sondern nur verwaltet und verkauft.« Und vom Steuergeld bekomme die Stadt Theater und Museen – und das Land Kläranlagen, Atomkraftwerke, Haus- und Atommüll, Industriegebäude, die subventionierte industrielle Landwirtschaft.
    Die rot-grün gestreifte Selbstversorgertomate
    Am Mittag jätete Heike Unkraut. Sie stand am Rand eines der Beete, die über den weiten Rasen verteilt waren. Heike düngte die Beete mit Komposterde und Ziegenmist, manchmal tauschten sie im Tauschring zusätzlich Eselmist
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