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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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seinen Rücken, er lag auf dem Tresen und ruderte mit den Beinchen. Ich legte meine Bahncard mit einer Ecke auf den Käfer. Die Karte wanderte langsam über den Tresen. »Magisch. Wie beim Stühlerücken«, sagte ich. Die Kartenverkäuferin guckte schief, vielleicht hielt sie mich für wahnsinnig. Im Zug nach Sachsen-Anhalt krabbelten weitere Ameisen aus meinen Kleidern, auch noch nach drei Stunden. Ich war von Leben erfüllt.

Ein politisches Ökodorf in der Altmark
    Alle zwei Stunden hielt der Bus, der aus Oebisfelde kam, in Poppau in der Altmark. Nicht mal einen Fluss oder Bach oder See sah man in Poppau, nur Rapsfelder, Weizen, Höfe. Hier, auf halber Strecke zwischen Wolfsburg und Stendal, lag ein Dorf, das eine Handvoll Ökos dreizehn Jahre zuvor gegründet hatten. Das waren keine Einsiedler, sondern eine ganze Gruppe von Siedlern, die herausgegangen waren in die Wälder, um sich ein eigenes Dorf zu bauen. Sie benannten es sozusagen nach sich selbst: Ökodorf. Bis heute hatten sie sich ganz schön vermehrt, vor allem durch Zuzug sich gut integrierender Zuwanderer. Sie waren jetzt mehr als hundert. Sie waren hier, um in Gemeinschaft zu leben und um gut zu leben – sowohl im qualitativen als auch im ethisch-moralischen Sinne. Von solchen Ökodörfern gab es mehrere in Europa, dieses war eins der ersten und größten in Deutschland.
    Die evangelische Kirche von Poppau war so groß wie ein Stromverteilerhäuschen. Daneben lag der Mittelpunkt der Welt. Auf einem brusthohen Granitfelsen, der vor dem Dorftümpel stand, war diese Behauptung in Stein gemeißelt – »Mitt’n in de Welt«. Einst sei nämlich von diesem Stein aus die Welt vermessen worden, sagt die Sage. Die beiden Eisenketten, die man dafür verwendet hatte, lagen noch heute unter dem Stein unter der Erde, weshalb man sie nicht sah. Auch das nahe gelegene Dorf Baben behauptete dasselbe von sich, und welcher Ort wirklich Mittelpunkt der Welt war, wusste niemand. In einer Region, in der sich diese Sage gleich an mehreren Orten bildete, musste eine tiefe Ahnung davon vorhanden sein, dass man am Ende der Welt lebte.
    Das Ökodorf war ausgeschildert, der Weg führte von Poppau weg durch fantasielose Felder in Richtung Wald. Die Äcker waren auch hier gigantisch. Man sah oft ihr Ende nicht. Der Raps stand in früher Blüte, das Getreide war erst knöchelhoch. Hier hatte jeder Maiskeimling und jeder Weizenhalm eine Funktion für den Sozialismus gehabt. Auch die Pflanzen durften solidarisch sein. Jeder Halm wusste, wofür er wächst. Heute wuchsen sie für die Großagrarier.
    Ans Feld grenzte Wald, eine Kiefern-Monokultur. Vielleicht war das auch noch DDR-Wald, »finsterer« DDR-Wald, möchte man sagen: Auf Moosböden standen die Kiefern so kerzengerade wie die Halme auf dem Feld. Die Stämme der Bäume waren schmal, durch den Wald konnte man weit hindurchsehen, und man sah doch nichts als Wald. Dieser Wald hatte keine Geheimnisse. Keine Büsche, keine Hügel, keine Farne, keine Brombeeren, keine Rehe, keine Elfen, keine Geister. Das wäre nichts für Ernst Bloch gewesen, Kleingeist des Sozialismus, kein Geist der Utopie. Schnell wachsender Wald, total durchdachter Wald.
    Am Waldrand bog die schmale Straße Sieben Linden ab. Nach einigen Metern hatte sie keine Betondecke mehr und war von Sand bemantelt, der aber nicht alle Schlaglöcher verdeckte. Im Kiefernwald waren einige junge Birken und Buchen zu sehen, rechts vom Weg eine Eichenkolonie. Hier war der Wald schon ein bisschen multikulti.
    Eine Steinspirale auf dem Sandweg markierte die Grenze des Ökodorfs. Jeder Siedler, der neu hinzuzog, musste hier einen persönlichen Gegenstand vergraben, das war ein Aufnahmeritual. Jeder musste hier sein Handy abschalten wegen der Strahlung, sein Auto abstellen wegen des Lärms. Rechts war die erste Bauwagensiedlung zu sehen, umgeben von einem Rondell aus Stämmen, deren Spitzen wie bei indianischen Zelten aneinandergelehnt waren. An den Bauwagen hingen zwei regenbogenbunte Pace-Fahnen und eine Jamaikaflagge. Die Bewohner hatten die Hippiekultur in die Altmark gebracht, aber vierzig Jahre zu spät.
    Wie auf einem Campingplatz am Gardasee hing am Eingang eine Platzkarte. Sie zeigte Wege, Gebäude und zentrale Einrichtungen: das Biotop, das Regiohaus, die Pflanzenkläranlage, die Obstbaumschule, den Junge-Leute-Platz. Und die Nachbarschaften, in denen die Leute nach jeweils eigenen Regeln zusammenlebten, sie hießen Globolo, Windrose, Brunnenwiese, Club 99, 81/5 oder
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