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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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anderen Seite des Schneefelds eine rote Markierung am Stein, das war mein Weg. Dorthin ging ich den Pfad zurück durch das Schneefeld zurück, es war knöcheltief, das war nur ein kleines Wötzel’sches Bergabenteuer.
    Ich stieg den Berg hinab, der hier schon Österreicher war. Zwei Gämsen erschraken vor meiner Erscheinung und hüpften in den Wolkenwald hinauf. Aus den Felsen sprudelten Bäche mit Urgewalt.
    Nach vier Stunden erreichte ich den Ort Gargellen. Im Haus Marmotta aß ich Kaiserschmarrn, dazu lief Schlagermusik, am Tisch neben mir saß ein schwäbisches Rentnerehepaar. Sie redeten kaum miteinander, aber immer wenn er hustete, beklagte sie laut die Lautstärke seines Hustens, und es schien, als hustete er beim nächsten Mal noch lauter, um ihr seine Autonomie zu demonstrieren. Als ich die Kellnerin nach dem nächsten Schinkenbauern im Ort fragte, lächelte sie mild. Weder hier noch im nächsten Ort gebe es einen Bauern, sagte sie, nur eine Käserei gebe es, aber die habe geschlossen, es schneie ja noch und die Kühe würden erst auf die Felder gebracht. Und Schüttelbrot? Sie schüttelte nur den Kopf.
    Ich wollte mein Glück in der Käserei versuchen, einem Holzhaus mit beschlagenem Fenster. Von drinnen hörte ich Männerstimmen. Der Bauer kam raus. Er hatte eine flache Stirn und glasige Augen, aber keinen Käse. Die Kühe seien erst seit gestern draußen, sagte er, Käse gebe es im Spätsommer. Weiter oben am Berg lag noch ein Hotel, aber es hatte geschlossen. Hier im Ort war der Schnee wieder Regen. Alles grau. Ich ging zurück in Richtung Schlappin. Das letzte von Menschen gemachte Stück Österreichs war eine Alm, vor der ein Kruzifix stand, aber auch die Alm war verriegelt.
    Die Berge sahen aus, als habe sie jemand mit einem Filetiermesser angeschnitten, an einigen Stellen tief, an anderen ganz leicht, denn das Wasser lief in mächtigen Bächen oder kleinen Rinnsalen aus den Bergen heraus wie Blut aus einem Körper.
    Ein Jäger fuhr in seinem Geländewagen vorbei. Ich fragte ihn, ob Bauern hier irgendwo Schinken verkauften, er lächelte mitleidvoll und fragte zurück, ob ich auf meiner Wanderung Wild gesehen habe. Ich verriet die beiden Gämsen, die ich auf dem Hinweg gesehen hatte, was mich sogleich ärgerte. Sie hatten sich zu Recht vor mir erschrocken.
    Ich stapfte den matschigen Weg hinauf, der Wind wehte heftiger, der Regen verwandelte sich noch einmal in dicke Schneeflocken, und ich wanderte durch die Wolken in die Schweiz, wo Rudolf Wötzel an diesem Tag, an dem der Sommer begann, sein neues Leben ohne Schinken und Schüttelbrot beginnen musste.
    Als ich am nächsten Tag abreiste, hatte ich nicht ein einziges Mal in Ruhe mit Rudolf Wötzel gesprochen. Mir schien es, als sei er ausgewichen. Am Mittag setzte ich mich zu ihm und bat um ein Gespräch, er aß Bratwurst und Kartoffelsalat, stocherte im Kartoffelsalat und erzählte von seinem Burn-out und von Panikattacken, die er gehabt hatte, und er sagte, er müsse sich heute noch sehr zusammenreißen, wenn er Stress verspüre. Jetzt habe er endlich einmal echte Personalverantwortung und wolle gern auch eine Familie gründen. Er hüstelte. Vielleicht war er so unruhig, weil ich ihn beobachtete, weil er die Eröffnungsfeier wegen des Schneefalls kurzfristig hatte verschieben müssen oder weil er wieder ein Buch schreiben musste. Er war ein Mann, der aus seiner Perspektive einen großen Schritt aus dem Hamsterrad gewagt hatte, auch ein Aussteiger.
    Da wieder kein längeres Gespräch zustande kam, begann ich von meiner Reise zu erzählen. Irgendwann schaute er mich an und fragte: »Waren die anderen denn glücklich?«

Warum ankommen?
    J etzt bin ich wieder in meinem Leben angekommen. Da sagt nicht jeder immer, was er denkt, man spricht nicht mit dem Frank, sondern mit dem Chef, da wächst keine rot-grün gestreifte Tomate, und man weiß wirklich nicht genau, welches Blut man so an den Fingern kleben hat. Die Reise wirkt nach. Viele Weltsichten waren mir neu, auch wenn sie nicht wirklich neu waren.
    Immer wieder erzähle ich von den Leuten. Gerade etwa gab es in Deutschland mal wieder einen Lebensmittelskandal, Legehennen hatten vergiftetes Futter gefressen, in das Industriefette gemischt worden waren. In der Kantine aßen wir Bauern-Omelette, und ein Kollege machte einen naheliegenden Witz über Dioxin.
    »Meine Selbstversorger haben mir Eier serviert; und weißt du, was die Hühner fraßen?«, fragte ich. »Kot, den Kot der Menschen. Das ist
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