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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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ging zum Duschen. Rechts neben mir saß ein Obdachloser, Ende fünfzig, in T-Shirt und Trainingshose. Er las wie entrückt in der Bibel. Ich musste mit jemandem reden nach dem vielen Zuhören und erzählte Achim, dem Obdachlosen, von den Ansichten des Mannes, der sich »Elf« nannte. Achim blickte auf und sagte ernst wie eine Priesterin im Orakel von Damanhur: »Der Weg, den er geht, ist genau der richtige. Er hat eine Wahrheit erkannt und folgt ihr. Will ein edler Mensch sein. Er muss daran verzweifeln. Damit er Gottes Gnade findet, damit er die Gnade erkennt. Sein Leben ohne Geld ist auch eine Art, sich über andere zu erheben. Es ist vom Wort Gottes abweichend, sich eigene Gebote aufzustellen. Der Herr schickt seine Kinder in die Verzweiflung, damit sie an sich verzweifeln und ihn erkennen.«
    Als ich von dem Kölner Kloster und den Novizen erzählte, sagte er: »Gottes kleine Kinder sind hier zu finden, nicht in den Klöstern und Gottesdiensten. Diese Priester wollen den Menschen beim Suchen von Gott helfen, aber sie haben ihn doch selbst nicht gefunden.«
    Pavlik kam zurück. Im Keller war er Meister Proper begegnet. Er trug ein blütenweißes T-Shirt und neue weiße Socken aus der Spendenkiste. Auch hatte er sich Boxershorts genommen, weiß und mit Geiermotiven verziert. Die Geier trugen Weihnachtsmannmützen, obwohl es Juni war. So war es eben in Wühlkistenwelten. Elf hatte es jetzt eilig. Es war neun Uhr, und er musste schnell ins Asta-Büro, wo hoffentlich viele Studenten auf ihn warteten. Er ging vor.
    Ich sprach noch kurz mit Achim. Er stammte aus der Pfalz und war ein Evangelikaler. Hier in München schlief er hinter Büschen. Er war kein echter Obdachloser.
    »Journalist?«, erschreckte ich mich.
    Nein, aber auch er machte ein Experiment. Ein paar Wochen unter Obdachlosen leben. Bis vor ein paar Tagen war er noch in Frankfurt gewesen, er reiste durchs Land und lebte wie ein »Penner«. Seinen Beruf und seinen Nachnamen wollte er nicht verraten. Seine Theologie klang orthodox: »Diese Klagen, was Gott alles an Elend zulasse auf der Welt, sind immer ein mutwilliges Beiseiteschieben. Denn die Menschen, die das beklagen, sehen nicht, was alles Gutes geschieht im Elend und Krieg, wie viele Leute dann wieder beten, wie die Schöpfung sich dem Schöpfer zuwendet.« Aber Achim hatte noch kein Erdbeben erlebt. Ich erzählte wieder von Pavlik. Achim schlug in seiner Bibel die Stelle 1. Timotheus 6, 10 auf und las vor: »Die Geldliebe ist die Quelle alles Bösen.«
    Pawel Jósef Stanczyk entsagte der Quelle alles Bösen nun konsequent. Weihnachten 2008 hatte er Amerika verlassen. Er flog auf Kosten seines Vaters nach Polen, denn er wollte seine liebe Großmutter noch einmal besuchen. Dann aber wusste Pawel nicht mehr, was er machen sollte. Er wurde im Eindruck vieler polnischer Fleischklößchen erst mal Vegetarier. Er entschloss sich dazu, gegen Kost und Logis auf Bauernhöfen zu leben. Sein Vater sagte zu Pawel, er sei doch der Anwalt des Teufels: Auf Geld zu verzichten sei reiner Irrsinn. Seine Mutter, die in zweiter Ehe in der Schweiz lebte, sagte ihrem Sohn, er sei doch verrückt. Geld werde es immer geben. Seiner Oma erzählte Pawel, es brächen wunderbare Zeiten für Elfen an, wenn bald viele Menschen ohne Geld lebten. Aber auch sie sagte ihm, er sei verrückt, er solle doch als Programmierer arbeiten, er sei so ein kluger Junge. Im Mai vergangenen Jahres benutzte er dann das letzte Mal Geld. Er kaufte sich als vegan beworbene Wanderschuhe, das waren Schuhe ohne Leder, und ein Flugticket nach Portugal, wo er das Ökodorf Tamera besuchte.
    Von diesem Tag an war er der Elf Pavlik.
    Von Tamera aus reiste er durch Europa, wohin ihn der neue Tag trug. Im Sommer zeltete er, im Winter lebte er in einer Hausbesetzerkommune in Berlin, vier Monate in einem Raum, in dem es vielleicht fünf Grad warm war. Von seinen Gastgebern lernte er die Kunst des Containerwühlens.
    Feuerzeuge, Messer oder was er sonst an Werkzeugen brauch te, fand er in Mülleimern, Trinkwasser in öffentlichen Toiletten, und in ein Krankenhaus hatte er, seitdem er Elf war, noch nie gehen müssen. Aber er gab sich zuversichtlich, dass sich dann schon ein Arzt finden werde. Er kochte bei Gleichgesinnten, meist bei Hackern, Anhängern der Open-Source-Ökonomie, die er in Internetforen kennenlernte.
    Wenn er beim Schwarzfahren erwischt wurde, zeigte er dem Kontrolleur seinen selbstgebastelten Ticketersatz mit einem Passfoto, worunter stand »No
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