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Tödliche Märchen

Tödliche Märchen

Titel: Tödliche Märchen
Autoren: Jason Dark
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Jason Finley erschrak heftig, als sich die Tür neben ihm urplötzlich öffnete. In die dunkle Diele fiel der Lichtschein des Schlafzimmers, in dem sich auch der Umriß einer weiblichen Gestalt abzeichnete. Ruth Finley, Jasons Mutter, stand dort.
    Der Zwölfjährige atmete tief aus. Er schluckte dann und schaute an sich herab. Über den Schlafanzug hatte er rasch die Jeans gestreift und war in die Jacke geschlüpft. Die Schuhe standen noch neben der Matte, er hatte sie nicht mehr anziehen können, es war zu spät gewesen. Sein Herz raste, die Mutter würde Fragen stellen, und wie er sie kannte, ließ sie sich nicht mit Ausreden abspeisen. Schließlich arbeitete sie bei der Polizei.
    Ruth Finley sah verschlafen und blaß aus, die Sommersprossen waren deutlicher als sonst zu sehen. Ihr blondrotes Haar hatte sie kaum bändigen können.
    Nicht einmal einen Morgenrock hatte sie über das Nachthemd geworfen. Jason schien unter dem Blick seiner Mutter immer kleiner zu werden. Und auch sein Lächeln half ihm nichts. Diesmal bekam er seine Mutter nicht mehr weich damit.
    Demonstrativ schaute Ruth auf die Uhr. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
    »Ja.«
    »Dann sag es.«
    Jason hatte das gleiche Haar wie seine Mutter. »Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht.«
    »Sehr richtig. Um diese Zeit haben nicht nur Kinder im Bett zu liegen, auch die meisten Erwachsenen schlafen schon. Aber mein Sohn will noch in aller Heimlichkeit das Haus verlassen.«
    Der Junge hob die Schultern.
    »Willst du mir nicht sagen, wohin du gehen wolltest?«
    »Weg.«
    »Einfach so?«
    »Ja.«
    »Ohne Ziel?« erkundigte sich die fünfunddreißigjährige Frau.
    »Nein, das hatte ich.«
    »Sieh mal an. Und wo, bitte, wollte mein Sohn zu dieser nachtschlafenden Zeit noch hin?«
    Jason klammerte die Finger ineinander, als wollte er irgend etwas auswringen. »Das… das kann ich dir nicht sagen. So etwas muß ein Geheimnis bleiben.«
    »Haben wir uns nicht versprochen, daß es keine Geheimnisse zwischen uns gibt?«
    »Ja, schon.«
    »Dann rede bitte. Aber beeil dich. Ich habe morgen Dienst und möchte nicht die ganze Nacht hier herumstehen.«
    »Ich… ich wollte zum Friedhof!«
    Ruth Finley war im ersten Moment so perplex, daß sie nichts mehr sagen konnte. Dann ging sie einen Schritt vor und fragte mit leiser Stimme:
    »Wo wolltest du hin?«
    »Zum Friedhof.«
    »Aha. Und was will mein zwölfjähriger Sohn mitten in der Nacht auf dem Friedhof?«
    »Ich will Daddy besuchen!«
    Auch diese Antwort versetzte der Mutter einen Schock. Gleichzeitig kehrte die Erinnerung wieder. Hai Finley war vor einem halben Jahr gestorben, ein Autounfall hatte ihn aus seinem blühenden Leben gerissen. Ruth hatte den Tod ihres Mannes noch nicht überwunden, der Junge ebenfalls nicht, er hatte sehr an seinem Vater gehangen und war auch schon öfter zum Friedhof gegangen, um an dessen Grab zu stehen und zu weinen. Aber mitten in der Nacht auf das Gelände zu gehen, war wohl übertrieben, und Ruth fand es auch unmöglich.
    »Nein«, sagte sie. »Nein und abermals nein. Das kommt nicht in Frage. Du weißt nicht, was du tust.«
    »Doch«, erwiderte der Junge trotzig.
    Sie holte durch die Nase Luft. »Aber das ist doch der helle Wahnsinn, was du da vorhast, Kind! Es geht nicht, daß du eine halbe Stunde vor Mitternacht allein das Haus verläßt, um auf einen stockdunklen Friedhof zu gehen. Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?«
    »Grandma Gardener.«
    Ruth Finley lachte gekünstelt. »Wer ist denn das schon wieder? Die kenne ich nicht.«
    »Doch, die mußt du kennen.«
    »Wohnt sie hier in der Nachbarschaft? Kaufst du mal für sie ein oder trägst ihr schwere Taschen hoch?« Jason schüttelte den Kopf.
    »Dann sag mir doch, wer diese Grandma Gardener ist.«
    »Viele Kinder kennen sie. Einmal in der Woche liest sie im Fernsehen Märchen vor. In meiner Klasse kennen die Jungen und Mädchen sie auch. Sie ist eine tolle Frau.«
    »Und die hat euch gesagt, daß du auf den Friedhof gehen sollst?«
    »So ist es.«
    Zwar hatte der Junge mit großem Ernst gesprochen, aber seine Mutter fühlte sich auf den Arm genommen. »Du bist wohl übergeschnappt. Es kommt überhaupt nicht…«
    »Ich muß gehen. Grandma Gardener hat mir gesagt, daß ich dort Daddy wiedersehen werde.«
    »Er ist tot, mein Junge. Hast du dir schon einmal überlegt, was diese Grandma ist?«
    »Ja, eine Großmutter.«
    Ruth nickte. »Sehr richtig, mein Kleiner. Sie ist eine Großmutter und gleichzeitig eine
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