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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Karriere prostituiert, reflektiert Rudolf Wötzel im Buch:
    Der Banker ist eine Edelhure. Bodylease hieß das im Beraterdeutsch, der Kunde bestimmt den Service. (…) Worin bestand eigentlich der Unterschied zwischen Herrn W. und einer brasilianischen Escortdame, die ein paar Jahre lächelnd rund um die Uhr ihren Kunden zu Diensten steht, um sich dann zur Ruhe setzen zu können?
    Intellektuell und moralisch war Wötzels alte Welt so verwahrlost wie die der Päpste im Avignon des vierzehnten Jahrhunderts. Die Bergwanderung, auf der sich Wötzel auch mehrmals in Lebensgefahr brachte, wirkte wie ein Bußgang, wobei Wöt zel in unseren Gesprächen zu meinem Erstaunen betonte, Schuld oder ein schlechtes Gewissen seien kein Thema für ihn, er habe sich in seinem früheren Leben immer an Recht und Gesetz gehalten, »im Ordnungsrahmen der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung«.
    Jetzt war Wötzel Buchautor und lebte im Ort Klosters in Graubünden. Ich saß in der Rhätischen Bahn, die wie in einer Märklin-Modelleisenbahnwelt in Richtung Davos fuhr. Ich las Wötzels Buch. »Sein Grund: Sinnkrise, Burn-out, Zweifel am System«, stand auf dem Buchrücken. »Seine Vision: ein neues Leben, im Einklang mit sich selbst und der Welt.« Das Buch endete mit einem Ausblick: »Nächsten Sommer werden wir ein kleines Bergrestaurant eröffnen. Auch ein Garten gehört dazu, in ihm werden wir Salate, Kräuter und Gemüse anbauen. Mein neues Leben ist wunderbar.«
    Der nächste Sommer, das war jetzt. Ich wollte dabei sein, wenn in zwei Tagen das Bergrestaurant eröffnete. Ich würde Rudolf Wötzel in seiner kleinen Berghütte besuchen und ihm bei den letzten Arbeiten helfen.
    Schlappin in den Wolken
    Es war der 18. Juni. Ich wartete in Klosters an der Bushaltestelle auf Wötzel. Die Lufttemperatur betrug schon wieder oder immer noch nur zehn Grad. Die Gondeln der Madrisabahn fuhren von der Talstation leer hinauf in die Wolken.
    Ich hatte mein Handy wieder angestellt, um Rudolf Wötzel zu sprechen, doch ich erreichte nur seine Mailbox: »Rudi Wötzel, please leave your message.« Alle zehn Minuten wählte ich neu und hörte immer dieselbe Nachricht. Nach eineinhalb Stunden fuhr mein Gastgeber im anthrazitfarbenen Audi vor. »Hallo, ich bin Rudi, wir sind ja hier in den Bergen. Tut mir leid, ich hatte mein Mobile im Auto vergessen.«
    Rudi trug eine Cordhose, schmale Lederschuhe, eine Outdoorjacke. Er wirkte gehetzt. Seine leicht gelockten schwarzen Haare hatte er mit Gel gebändigt. Ich sah wohl weniger gepflegt aus. Nach den Tagen im Englischen Garten kam ich mir vor wie ein Landstreicher: Der Bart hatte den Kampf gegen den Nassrasierer gewonnen, meine Kleider waren nicht mehr frisch. Ich entschuldigte mich, und Rudi sagte: »Macht nichts, wir sind ja in den Bergen.«
    Wir kannten uns erst seit einer Minute, jeder hatte sich schon einmal beim anderen entschuldigt, und beide Male war die Sache deswegen in Ordnung, weil wir in den Bergen waren.
    Von den Leuten, die ich besucht hatte, war die Mehrzahl kinderlos. Auch Rudolf Wötzel, siebenundvierzig, hatte bisher keine Zeit für Familie gehabt.
    Reißend strömte ein Bach ins Tal hinab, und der Fließrichtung des Wassers entgegengesetzt kurvte Rudolf Wötzel unseren Audi die schmale Straße hinauf ins Bergbauerndorf Schlappin. Das alte Walserdorf Schlappin hatte sich in den Wolken versteckt. Als wir es trotzdem fanden, sahen wir einen Stausee, alte Steinhäuser, darunter auch das von Wötzel übernommene Berghaus Gemsli, das zwei Tage darauf seinen großen Tag haben würde.
    Im Gemsli standen Stühle, lagen Kuhhornlampen und Weinkisten herum, auf dem Boden war eine Plastikplane ausgebreitet. Rudi Wötzels Hektik war begründet. Bis übermorgen war viel zu tun. Wir aßen schnell gebratene Würste, tranken ein Bier und räumten den Tisch schon wieder ab, so eine Eile war ich gar nicht mehr gewöhnt. Rudi zeigte mir mein Bett im Matratzenlager. Dort wohnte auch das portugiesische »Zimmermädchen«, wie er sagte. Sie war vielleicht sechzig. Linda trat uns in gelben Crocs und im Schlafrock entgegen. Heute war ihr freier Tag.
    Wötzel fuhr hinab nach Klosters, dort lag seine größere Wohnung, und etwas weiter hatte er auch ein Edelrestaurant. War er ein Aussteiger? Er hatte der High Society jedenfalls wohl nicht abgeschworen. Aber von wie weit oben er gekommen war: Auf seiner Wanderung hatte er nach Wochen in den Bergen mal ein Klo putzen müssen und schrieb dazu im Buch: »Mein
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