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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Jahrgangsbester geworden, doch das machte ihn nicht glücklich, und so blieb es auch in der weiteren Karriere: Immer wenn er ein großes Ziel erreicht hatte, schenkte ihm sein Körper einen kurzen Endorphinrausch, doch schnell machte sich dann ein Katergefühl breit, und die innere Leere musste durch ein neues Ziel aufgefüllt werden. Das war auch mir aus meinem Leben nicht ganz unbekannt.
    Wötzels Selbstkritik war nach der Bankenkrise natürlich wohlfeil. Mein Eindruck war, dass er nicht aus dem Leistungsmodell ausgestiegen war, sondern sich im Rahmen des Leistungsmodells an die Erwartungen eines neuen Publikums angepasst hatte. Er stilisierte sich im Buch zum sportlichen Helden, war aber kein Held, sondern ein Banker, der dem Kollaps bei letzter Gelegenheit entgangen war.
    Am Nachmittag saß Wötzel in der fast fertig hergerichteten Stube und schrieb schon an seinem nächsten Buch, einem Ratgeber mit dem Untertitel »Es ist nie zu spät für den richtigen Weg«. Er saß vor seinem Laptop, und ein Mann in einer schwarzen Lederjacke saß bei ihm am Tisch. Er guckte auf Wötzels Bildschirm, las einen Absatz und lobte den Autor sehr: »Rudi, du kannst schreiben! Du hattest in Deutsch immer eine eins, oder?«
    Wötzel lächelte.
    »Cleveres Kerlchen«, sagte der Mann.
    Am Vorabend meiner Wanderung und der Eröffnung waren Nachbarn zum Essen eingeladen. Der eine war ein normaler reicher Schweizer im Pensionärsalter, der ausgesorgt hatte und hier seinen Sommer verbrachte, er sprach krächziges Schweizerdeutsch. Daneben saßen ein anderes Ehepaar und ein Mann aus Baden-Württemberg, der hier im Sommer als Senner arbeitete, und Rudolf Wötzel mit seiner Freundin. Ein präparierter Hirschkopf und Rehgeweihe hingen an der holzvertäfelten Wand. Der Koch, ein junger Brandenburger, war hochmotiviert. Schwungvoll stellte er die Gerichte vor: »Mit einer Idee Vanille«, sagte er, »mit einer Idee Thymian«, »… und nun eine Haselnuss-Panacotta.« Der Pensionär saß am Ende des Tisches und unterhielt alle. Die Präsentationen des Kochs kommentierte er ironisch. Mich nannte er Schreiberling.
    Rudolf Wötzel lachte wie ein Rasenmähermotor, der nicht anspringen will, »Ha-ha-ha-ha – hahaha«, dann hörte er schlagartig auf, oder das Lachen ging in Husten über. Die Gesprächsthemen waren Golfspielen, Brunnenkresse, die im Tal wuchs, ob der Sommer noch kommen werde und wer schon das neue iPhone habe. Der Pensionär nahm viel Rotwein zu sich, gab sich als Kenner, und im Laufe des Abends nahm die Härte der »Chr«-Klänge in seinem Schwyzerdütsch zu. In Island gehe es den Leuten derzeit infolge der Bankenkrise schlecht, das sei ein prima Reiseziel, sagte er. Rudolf Wötzel lachte zwar laut, war aber eigentlich ein stiller Mensch. Er sagte überhaupt selten mehr als drei Sätze hintereinander.
    Über die Berge zum Schinken
    Am Morgen des Tages, für den der Kalender den Sommerbeginn fest versprochen hatte, lag Schlappin nicht mehr in den Wolken. Aber die Wolken waren noch da, sie waren einige hundert Meter hochgezogen. Sie ließen Schneeflocken auf das Bergdorf fallen wie Konfetti zur Eröffnung des Gemsli.
    Wötzel kam mit seinem Audi aus dem Tal und lieh mir eine wasserdichte Hose und Jacke. Ich zog Plastiktüten über meine Socken, um die Füße vor dem Schneematsch zu schützen, schnürte die Wanderschuhe und setzte den Rucksack auf, mit dem ich Schüttelbrot und Schinken in die Schweiz schmuggeln sollte, und stieg den Wanderweg hoch in Richtung Schnee. Auf matschigen Pfaden ging ich an Kühen und Kiefern entlang. Wolken schwebten wie Gespenster durch mich hindurch. Auf einem gegenüberliegenden Bergkamm war die vom Nebel unscharf gezeichnete Silhouette einer Kuh zu sehen. Es schneite stärker.
    Nach eineinhalb Stunden erreichte ich das Schlappiner Joch. Das war der höchste Punkt. Hier blieb der Schnee liegen und überdeckte den Weg. Darin waren keine Fußspuren sichtbar, es war offenbar länger niemand hindurchgewandert. Ich wusste nicht weiter, ging rechts an einem Bergkamm entlang, das Gefälle zum Schneefeld unten wurde steiler, mein Pfad wurde schmaler. Ich ging auf moosig bewachsenem Geröll, der Pfad war nur noch einen halben Meter breit. Ich trat unsicher auf, stützte mich mit einer Hand am Berg, rutschte aber auf dem nassen Steinboden trotzdem aus, schlitterte ein Stück hinab und krallte mich an einem Matschhaufen fest, während meine Füße an einem anderen Halt fanden. Von hier sah ich plötzlich unten auf der
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