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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Alpin-Gulag!«
    Nun war ich mit Linda allein. Wir spazierten ein Stück den Wanderweg, der am Bach entlangführte, weiter hinauf, die Gipfel lagen in den Wolken. Der Schlappinbach rauschte, und Kühe schreckten vor uns zurück, andere folgten uns träge. Das Zimmermädchen erzählte, dass an dieser Stelle im vergangenen Sommer zwei Wanderer gestorben seien, Menschen mit einer Schwäche für die Berge und einer Schwäche im Herzen.
    In seinem Buch erinnerte sich Rudi Wötzel auch daran, dass er als Kind das Bilderbuch Frederick von Leo Lionni geliebt habe. Das ist die Geschichte von Wühlmäusen, die emsig den ganzen Sommer Vorräte sammeln und streng sind mit der Maus Frederick, die nicht mitarbeitet, sondern immer nur am Rand sitzt und sich den Himmel anschaut und die Kornblumen und die Farben genießt. Im Winter dann kehrt in der kargen Mäusehöhle Tristesse ein. Jetzt tritt Frederick auf und erzählt von den roten Blumen und dem blauen Sommerhimmel, er wird zum Dichter, und die anderen Mäuse hören ihm stundenlang zu. Auch Fredericks Träumereien waren nicht nutzlos; der junge Rudolf Wötzel war fasziniert von der Maus Frederick, nahm sie sich aber nicht zum Vorbild.
    Am nächsten Morgen war das Gemsli voller Menschen. Handwerker schoben Möbel und hämmerten. Draußen war die Temperatur auf sechs Grad gefallen, und es regnete weiter. Im Kaminzimmer, das jeder Blinde für eine finnische Sauna gehalten hätte, machte das aus Deutschland stammende Personal Schreibtischarbeit. Eine Kellnerin tippte die Getränkekarte ab. Sie suchte gemeinsam mit Rudolf Wötzel einen Namen für das Hausgetränk, einen Brennnessel-Eistee mit Zitrone.
    »Was die Leute nicht kennen, da muss man sie marketingmäßig irgendwie mit neuen Worten einfangen«, sagte Wötzel. Man einigte sich auf »Gemsli-Gletscherwasser«. Der Koch brachte auf einem Probierbretterl Bergkäse mit Ingwer-Kumquat-Marmelade: »Potenzanregend.« Linda brachte uns Tee. Sie lächelte immer nur, wenn der Koch oder die Kellnerin sie auf Deutsch ansprachen, denn sie verstand kein Wort. Manchmal sagte sie: »Si, si.«
    Die Kellnerin sprach mit Linda wie mit einer Idiotin: »Du finito, nix mehr Arbeit, finito jetzt«, sagte sie und schloss doch noch ein ausländisches Wort an: »Merci!« Wötzel sprach mit dem Zimmermädchen portugiesisch, er war als Banker auch eine Zeit lang in Brasilien gewesen.
    Der Koch wollte ein Fußballspiel sehen, ein Techniker bemühte sich, den Empfang herzustellen, aber es gelang nicht. Rudolf Wötzel sagte: »Ich lebe schon länger ohne Fernseher und wollte hier keinen haben, aber es gibt Gäste, die kommen nicht, wenn sie eine Woche keinen Fußball sehen können.«
    Für übermorgen habe er einen Spezialauftrag für mich, sagte Rudolf Wötzel. Ich würde eine Wanderung über die Berge und die nahe Grenze nach Österreich machen. Acht Stunden. Und drüben von einem der vielen Bergbauern etwas Leckeres für die Eröffnung kaufen und mit einem Rucksack voller Schüttelbrot und Schinken zurückkehren.
    Das war eine gute Idee: Ich würde wandern, wie Wötzel einst gewandert war, über einen Gipfel und eine Grenze und dabei zu mir selbst finden oder zu einem Räucherschinken.
    Auf seiner Wanderung hatte Herrn Wötzel immer wieder die Lebensfreude der einfachen Leute in den Bergen fasziniert. An einer Stelle, an der er schon eine Weile unterwegs ist, schreibt er in seinem Reisebericht:
    Wenn Erfolg bedeutet, seinem Herzen zu folgen und glücklich zu werden, und sei es auf die allergewöhnlichste und schlichteste Weise, dann muss ich nicht ohne Neid eines anerkennen: Der Mankeiwirt mit seiner Hütte und seiner kuriosen Passion für Murmeltiere ist weit erfolgreicher gewesen als ich mit meinem Muster-Lebenslauf und meiner Hochglanz-Karriere. Dieser Mann handelt aus innerer Überzeugung, unterwirft sich keiner Fremdsteuerung – und ist nicht gezwungen, seine Seele zu verkaufen.
    Wötzel hatte ein Leben nach dem Leistungsmodell gelebt. Dazu war er von seiner statusorientierten Mutter motiviert worden, genau wie von seinem Vater, den er im Rückblick auch als engstirnigen Patriarchen beschrieb. Seine Eltern dressierten ihn auf Höchstleistungen. Doch sein Vater hatte auch ein anderes Gesicht, das er dann zeigte, wenn Vater und Sohn gemeinsam in den Bergen waren. Im Wanderurlaub, erinnerte sich Rudolf Wötzel, war sein Vater ein guter Vater.
    Nach dem Abitur führte sein Leistungsweg Rudolf Wötzel ein erstes Mal in eine kleine Krise. Er war
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