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Vom Aussteigen und Ankommen

Titel: Vom Aussteigen und Ankommen
Autoren: Jan Grossarth
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Ticket« und sein Name Elf Pavlik sowie ein paar erklärende Sätze. Bislang ließen ihn die Schaffner dann in Ruhe. In eine Polizeikontrolle war er bisher noch nicht geraten, und wenn der Staat eine Gebühr von ihm verlangen würde, etwa für das wilde Campen in öffentlichen Parkanlagen, dann würde er auch den Polizisten erklären, wer er sei, warum er so lebe, und er würde argumentieren, er habe das Gesetz, das wildes Campen verbietet, niemals unterschrieben. Er würde zu dem Polizisten nicht als Repräsentanten des Staates sprechen, sondern zu Herrn Heinz, dem Familienvater Heinz, denn auch das war einer seiner Grundsätze: Er sprach nie mit Menschen als Vertreter einer Institution, sondern immer mit dem Menschen selbst, da er ja keine künstlichen Gebilde, keine Institutionen anerkannte. Denn dass Menschen nicht mehr für sich sprachen, sondern für ein Unternehmen, eine Partei oder die Polizei, das sah Pavlik als ein Grundübel unserer Zeit an.
    Meist ging mir seine Beharrlichkeit schrecklich auf die Nerven, doch manchmal fand ich ihn zum Niederknien klug. In jedem Fall war er ein Individualist, der diese Bezeichnung verdient hatte.
    Elf Pavlik träumte davon, eines Tages mit der transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok zu fahren, aber das war für ihn nicht möglich, ehe sich die Welt vom Geld und den Staaten emanzipiert hatte, da er seinen Ausweis vernichtet hatte und nicht mehr ausreisen konnte.
    Nach der Dampfnudel-und-Speckeintopf-Party genoss ich das Völlegefühl und ging langsam durch den Regen in Richtung Asta-Gebäude. Dort saß Pavlik allein an einem Computer. Kein Student war seiner Einladung gefolgt. Niemand hatte auf seine E-Mail geantwortet. Pavlik wirkte enttäuscht, aber sagte, es sei gar nicht schlimm, seine Ankündigung sei zu spät gewesen. Ihm sei übrigens eingefallen, dass wir die Eier vom Lidl, die wir für die Asta-Leute auf dem Friedhof deponiert hatten, am Morgen dort abzuholen vergessen hatten.
    Wir gammelten den halben Tag auf einer Couchecke im Foyer des Studentenwerks herum, der Regen tobte sich draußen aus. Unser Tagesrhythmus war ganz aufs Sattwerden konzentriert. Am Nachmittag begannen wir wieder, Puffreisschnitten zu essen. Trotzdem wurden wir hungriger. Unsere letzte Wanderung führte uns abermals zum Lidl, doch diesmal waren die Container leer. Wir gingen im starken Regen weiter die Leopoldstraße hinauf, und wie eine Fata Morgana erschien ein Rewe-Markt in einem glänzenden Betonbau. Wir gingen um ihn herum, der Hintereingang stand offen, wir gingen hinein und sahen drei offene Container. Pavlik fischte alles heraus, was er fand, Kekse, Käse, Knabbereien. Doch plötzlich stand ein kräftiger Mann in einer Rewe-Schürze vor uns, zeigte auf die Überwachungskamera und fragte: »Was soll das denn werden?« Wir baten ihn darum, die Abfälle mitnehmen zu dürfen, und er sagte, wenn wir sie nicht sofort liegen ließen und das Gebäude verließen, werde er uns anzeigen. Wir gingen, und der Mann rief uns hinterher, es sei nur zu unserem Besten.
    Wir hatten noch zwei Orangen und aßen sie. Immer wenn ich eine Obstschale in einen Mülleimer werfen wollte, ermahnte Pavlik mich. Er hielt mir eine gelbe Tupperbox hin, wo er organischen Abfall sammelte, um ihn bei Gelegenheit in einer Grünanlage zu entsorgen, damit die Bäume noch etwas davon hätten.
    »Gib es der Erde zurück«, sagte er dann.
    Wenn ein Mensch sagte, er habe ausgesorgt, weil er genügend Geld habe, ist das im franziskanischen Sinne besorgniserregend. Denn dann hat er nichts mehr, um das er sich sorgen muss. Elf Pavlik war arm und hatte sehr viele Dinge, um die er sich sorgte.
    Wir gingen die Ungererstraße hinauf, die hier im Norden der Stadt bereits mit der Autobahn in einen Hässlichkeitswettbewerb eingetreten war, und im nächsten Netto-Supermarkt – ja, wir hatten unseren Netto gefunden! – waren die Container verschlossen. Meine Füße gingen durch die Hölle. Wir gingen wieder zurück, folgten dem vielbefahrenen Frankfurter Ring, der den Hässlichkeitswettbewerb gewann und nun in Gestalt einer Brücke über den Englischen Garten führte. Plötzlich bekam ich Durchfall, ich ging in die Büsche, kam heraus, es mangelte uns an Papier, wir gingen weiter, mir war übel, wir hatten wieder seit zehn Stunden nichts als Puffreis gegessen: »Vom Glück des einfachen Lebens«!
    Der Elf wirkte gut gelaunt wie am ersten Tag. »Ich glaube, dass ich kein Suchender mehr bin, sondern schon sehr viel gefunden habe«,
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