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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
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Hübschesten unter euch. Das ist sein Geschenk von euch an ihn. Und wenn ihr Glück habt und ihm eine von euch gefällt ...«
    Lüge!, brüllte es in Jolin. Alles Lüge! Es ist nicht Rouben, es ist nicht sein Geburtstag, ihr werdet alle sterben. Sie spürte einen Aufschrei in ihrer Kehle. Er wollte aus ihr hervorbrechen, aber Antonins eiskalter Wille ließ ihn augenblicklich in Lautlosigkeit erstarren. Jolin fühlte den kühlen Hauch an ihrem Hals, und sie sah, wie die Türen zum Saal sich nun langsam schlossen. Ein Paukenschlag ließ die Atmosphäre erzittern. Danach stand alles still. Nur das Mädchen im rauchblauen Kleid wirbelte lachend um die Gäste, griff nach und nach Katrin, Anna, Klarisse, Annabelle, Simone, Melanie, Susanne, Tanja und vier weitere Mädchen, die allesamt wie betäubt wirkten, heraus und führte sie über eine schmale Treppe die Erhöhung hinauf und auf Vincent zu. Klarisse war die Erste, die ihm vor die Füße fiel. Er beugte sich zu ihr herab, berührte sie an der Schulter und zog sie wie eine Marionette am Faden auf die Beine zurück. Lächelnd öffnete er seinen Umhang, legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. Seine Finger fuhren durch ihre schwarzen Haare und bogen ihren Kopf in den Nacken. Klarisses langer schlanker Hals schimmerte im Mondlicht, und hinter Vincents blutroten Lippen blitzten schneeweiße spitze Eckzähne auf
    Neeeiiin!, schrie Jolin. Es steckte stumm in ihrem Hals, es erstickte ihr Denken, und es schnitt ihr mitten durchs Herz. Sie wollte nicht, dass Klarisse starb, sie wollte nicht, dass Vincent in ihre Welt kam, sie wollte, dass Anna lebte, und sie wollte, dass Rouben endlich erfuhr, wie sehr sie ihn liebte. Sie hatte nur noch diesen Augenblick, diese eine einzige letzte Sekunde. Und während der Spalt zwischen den Flügeln der beiden Türen zum Saal immer schmaler wurde und Vincents blutrote Lippen Klarisses zarte Haut berührten, füllte sich Jolins Seele ganz und gar mit der Erinnerung an ihre innigste Umarmung mit Rouben. Er hatte dafür den einzigen möglichen Zeitpunkt gewählt, er hatte es nicht aus Berechnung getan, und er hatte nicht einmal geahnt, dass er sie damit vor dem tödlichen Kuss seines Bruders schützen würde. Er hatte ihr nicht das Herz gestohlen, sondern ihr seine Liebe geschenkt und zugleich seine tiefste Sehnsucht offenbart. Ohne es zu wissen, hat-te er ihr in dieser Nacht sein Leben, seine ganze Existenz in die Hände gelegt, und jetzt, da sie all das endlich tief in ihrem Herzen erkannte, wollte sie nur noch eins: Dass es nicht umsonst gewesen war.
    Rouben! Jolin hörte, wie ihr Inneres seinen Namen rief. Sie sah seine Augen und das Funkeln darin, sie spürte, wie seine Fingerkuppen ihre Haut berührten, sie atmete seinen Duft, und sie war überrascht, wie vertraut er ihr war.
    Rouben! Sein Name war in ihrer Kehle, und er war in ihrem Herzen. Er durchströmte ihre Gedanken, floss durch ihre Adern und durchflutete jede einzelne ihrer Zellen mit einer Wärme, die sie so noch nie empfunden hatte. Ihr Herz klopfte wild. Am liebsten hätte sie es laut in die Welt hinausgeschrien: Rouben, ich liebe dich. Hört alle zu, ich liebe, liebe, liebe ihn! Es war absurd in dieser Situation, aber Jolin war glücklich, sie war geradezu beseelt von diesem Gefühl. Sie hätte lachen können, jubeln, sie fühlte sich innerlich absolut frei.
    In diesem Augenblick drang ein lautes, wütendes Fluchen in ihr Ohr. Jolin spürte, wie Antonins Kopf zurücksank. Der Griff in ihrem Haar lockerte sich, und der Arm, der sie eben noch fest umklammert hatte, glitt nun wie eine ätherische, körperlose Substanz durch sie hindurch und verschwand.
    Jolin taumelte noch vorn. Sie registrierte den Spalt zwischen den Türflügeln, der jetzt nur noch wenige Zentimeter breit war. Dann sah sie Vincent, der Klarisse umfangen hielt - und rannte los. Mit wenigen langen Schritten stürzte Jolin auf die Tür zu und stieß ihre Finger in den engen Spalt. Sie umklammerte die Türflügel und versuchte, sie wieder aufzudrücken. Doch die Energie, mit der die Prophezeiung ihrer Erfüllung entgegenstrebte, konnte sie mit reiner Muskelkraft nichts entgegensetzen.
    »Klarisse! Neiiin!«
    Es war ein Schrei, der tief aus Jolins Innerem kam. Er hallte den Wehrgang hinunter, durchdrang die dicken alten Mauern der Burg und bestand einzig und allein aus dem klaren, aber verzweifelten Willen, Klarisse aus Vincents Umarmung zu befreien. Gewaltsam presste Jolin ihre Hände bis zu den
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