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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
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gegen ein zwar sterbliches, aber weitaus erbaulicheres Leben im warmen Licht der Sonne eintauschen. Möglicherweise würde er sogar an Roubens Stelle in die Albert-Schweitzer-Schule gehen und sich von den Mädchen dort umschwärmen lassen. Irgendwann in den nächsten Tagen oder Wochen würde man die blutleeren Körper von Anna, Klarisse, Rebekka, Susanne und acht weiteren Mädchen in der Burgruine finden.
    Die Burg selbst, die in dieser Nacht der Prophezeiung offenbar durch die Kraft dieses besonderen Ereignisses ihre ursprüngliche, vor über dreihundert Jahren existente Form angenommen hatte, würde Jolin und alle Übrigen,
    die Lebenden wie die Untoten, mit sich fortreißen in den Schatten der Erinnerung, in dieses ewig andauernde rastlose Dahinvegetieren im kalten, weißen Licht des Mondes. Was würde mit Rouben passieren? Würde er, dann unerlöst aus seinem Leben im Zwielicht, beim Anblick der aufgehenden Morgensonne, jenem magischen Moment, den er so sehr liebte, womöglich zu Staub zerfallen?
    Gerade der Gedanke an sein Schicksal und nicht einmal so sehr der an ihr eigenes, zerriss Jolin das Herz. Mit einem Mal sah sie ihn wieder vor sich, wie er nach ihrer Liebesnacht durch das zerborstene Dach in Richtung Osten blickte und die aufsteigende Sonne seine fahle Haut in ein sattes Ocker färbte und seine dunklen Augen zum Leuchten brachte. In diesem Augenblick spürte Jolin Roubens Sehnsucht nahezu körperlich. Seine Sehnsucht nach Licht und Wärme, nach einem Ende der Isolation und der Einsamkeit - und nach Liebe.
    Es war nur ein Sekundenbruchteil des Begreifens, ein Moment, der alle Fragen und Zweifel der letzten Wochen verbannte und jeden Winkel von Jolins Seele erfüllte. Und genau in diesem Moment wollte sie nur noch eines: Verhindern, dass Rouben starb.
    »Zu spät«, sagte eine kalte raue Stimme hinter ihr. Eine eisige Hand fasste in ihre Haare und zerrte sie zurück. Jolin fiel gegen einen steinharten Körper, und ein dünner sehniger Arm umklammerte ihren Leib wie der eiserne Bügel eines Schlosses. Sie wollte um Hilfe schreien, doch die Kälte dieses Wesens, das sie gefangen hielt, erfror jeden Laut in ihrer Kehle. Jolin spürte, wie diese Kälte ähnlich einem schleichenden Gift in jede einzelne ihrer Zellen drang und ihre ohnehin schon erlahmten Muskeln gierig durchströmte.
    »Du kommst mit mir«, sagte die Stimme, und Jolin wurde klar, dass sie nur einem gehören konnte: Antonin, Ramalias Ehemann, dem Vater von Vincent. »Dich will ich bei mir behalten«, hauchte er in ihr Ohr. »Du bist mein Pfand, das Opfer, das die treulose Ramalia mir in dieser Nacht gewähren muss, dafür, dass ich meinen Sohn hergebe.« Er keuchte schwer, und Jolin atmete würgend den modrig stinkenden Atem, der seiner Mundhöhle entwich. »An deiner Jugend und Schönheit will ich mich erfreuen, in dem Wissen, dass du demjenigen, den ich aus ganzer Seele hasse, niemals gehören wirst.«
    Sein Griff in ihren Haaren und um ihren Körper wurde fester. Jolins Kopfhaut brannte wie Feuer, und es kam ihr so vor, als ob sämtliche Eingeweide aus ihr herausgepresst würden. Antonin zerrte sie in den Wehrgang hinaus.
    »Sieh hin!«, zischte er. »Sieh genau hin!«
    Die Musik verstummte schlagartig inmitten eines hämmernden Instrumentalstücks. Die Lichtanlage warf noch einen letzten gleißenden Laserstrahl zur Decke des Partysaals, dann brach in ihrer Mitte ein Spalt auf, der sich langsam wie ein Schiebefenster öffnete und den Blick auf den sternenlosen Nachthimmel freigab. Ein Raunen ging durch den Saal. Jolin hörte erstaunte Rufe und einen unterdrückten Aufschrei. Dann brach der riesige Kronleuchter aus seiner Befestigung. Er zerbarst in Millionen winzige Einzelteile und ging als rötlich flirrender Glimmerregen auf die Partygäste nieder. Als sein letzter Lichtfunken am Boden verglüht war, herrschte absolute Dunkelheit.
    Doch dann schob sich der volle Mond allmählich über die Kante der Deckenwand, bis er senkrecht über ihnen stand und der ganze Saal in sein helles kaltes Licht getaucht war. Dort, wo zuvor das Buffet aufgebaut gewesen war, befand sich nun eine Erhöhung. Und auf dieser Erhöhung stand groß und stolz und Rouben zum Verwechseln ähnlich Vincent, in einen langen schwarzen Umhang gehüllt, mit kalkweißem Gesicht, blutroten Lippen und tiefschwarzen Augen, in denen sich anstelle von Licht und Leben nur der kalte Mond spiegelte.
    »Zwölf sollen es sein«, erschallte eine Stimme durch den Saal. »Zwölf der
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