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Vogelwild

Vogelwild

Titel: Vogelwild
Autoren: Richard Auer
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leises Stöhnen
aus. Eine halbe Stunde! Dreißig Minuten! Um sich abzulenken, begann er zu
rechnen. Dreißig mal sechzig: Das machte eintausendachthundert Sekunden.
Hoffnungslos ob dieser Zahl starrte er auf die Ministranten vor ihm, die schon
wieder eifrig ihren Räucherofen nachfüllten. Dann endlich setzte sich die
Prozession wieder in Bewegung.
    Sie befanden sich auf dem Weg Richtung Marktplatz, als
Morgenstern plötzlich in die Knie ging – und nicht etwa aus christlicher
Andacht. Er stolperte kurz, dann wurde aus seinem leichten Schwindel
stockfinstere Nacht. Wie ein unterlegener Boxer in der elften Runde ging
Morgenstern k. o., Knock-out.
    Er kam erst wieder zu sich, als der Ringrichter sich
über ihn beugte und anzählte. Nein, halt, das war kein Ringrichter, sondern
eine betagte, kleine, resolute Dame mit gestärkter weißer Schürze und einer
ebenso makellosen weißen Haube, auf der Morgenstern etwas unscharf ein kleines
rotes Kreuz erkennen konnte. Binnen Sekunden war der Oberkommissar wieder bei
sich.
    »Geht schon wieder«, murmelte er und wollte sich
aufrappeln, um sich wieder in den Zug einzureihen, als er merkte, dass er auf
dem Fußboden einer Pilskneipe lag, die sich anscheinend an der
Prozessionsstrecke befand. Um ihn herum konnte er besorgte Gesichter ausmachen,
darunter auch das von Hauptkommissar Huber, der die goldene Monstranz nebst
Bischof offensichtlich von den restlichen vier Kollegen für hinreichend
geschützt hielt.
    »Nein, Mike, du bleibst erst einmal, wo du bist«,
bestimmte er.
    Die Sanitäterin schälte den lädierten Morgenstern
vorsichtig aus der Festgarderobe. »Ihr mit euren Mänteln! Und dann auch noch
mit Handschuhen! In einer solchen Montur kann man doch bei dreißig Grad nicht
vier Stunden lang durch die Stadt laufen. Hoffentlich hat er keinen
Hitzschlag«, meinte sie kopfschüttelnd zu Huber, bevor sie schmunzeln musste.
Soeben befreite sie Morgenstern von seinem Schuhwerk und hielt den umstehenden
Zuschauern triumphierend einen lammfellgefütterten schwarzen Schnürstiefel
entgegen. »Jetzt wundert mich gar nichts mehr«, schimpfte sie noch immer
lächelnd den am Boden liegenden Beamten. »Wahrscheinlich haben Sie auch noch
lange Unterhosen an, was? Aber das wollen wir lieber nicht in der
Öffentlichkeit kontrollieren.«
    Morgensterns Blässe wich schlagartig der Schamesröte,
die ihm ins Gesicht stieg. »Ich hab halt keine anderen schwarzen
Festtagsschuhe«, verteidigte er sich leise, bevor ihm eine gute Seele endlich
eine Apfelschorle auf den marmorgefliesten Boden hinabreichte.
    »Hier könnten wir jetzt doch eigentlich gut bleiben
und uns erholen«, schlug Morgenstern vor, als er sich wieder einigermaßen
gefangen hatte und nur noch bestrumpft den Rest seiner Schorle an einem der
Bistrotische austrank.
    Doch Huber winkte entschlossen ab: »Kommt nicht in
Frage. Ich muss noch kurz zum Prozessionsabschluss in den Dom, und um Punkt
zwölf treffen wir uns alle zum Frühschoppen im Garten der Katholischen
Hochschulgemeinde. Da gibt’s Weißwürste.«
    Morgenstern seufzte ergeben. »Kann man in Eichstätt
denn nicht einfach mal in eine normale Wirtschaft gehen?«, rief er dem
abziehenden Kollegen missmutig hinterher. Er bekam keine Antwort.
    Die
Weißwürste waren besser, als Morgenstern es erwartet hatte. Doch wegen seiner
kleinen Kreislaufschwäche verzichtete er schweren Herzens auf das ortsübliche
Weißbier und widmete sich stattdessen seiner zweiten Apfelschorle des Tages.
Der Garten des Studentenpfarrzentrums war gut mit mehreren Gruppen gefüllt, die
an der Prozession teilgenommen hatten. Fast alle grünen Klappstühle, die sich
um die Blechtische gruppierten, waren besetzt. Die Mitglieder der beiden
Eichstätter Burschenschaften sahen in ihren bunten Uniformen samt Degen und
Käppis wie Husaren aus und würden sicher über kurz oder lang mit deutschem
Liedgut auf sich aufmerksam machen. Mehrere gesetzte Herren, die schwarze
Umhänge mit aufgenähten Kreuzen trugen, wurden Morgenstern von Manfred Huber
als »Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem« vorgestellt, und der Trachtenverein
»D’Altmühler« war genauso anwesend wie die »Königlich Privilegierte
Feuerschützengesellschaft« im grünen Anzug. Alle hatten in ihrer ebenso dicken
Kleidung der Sommerhitze besser standgehalten als Morgenstern. Es herrschte
eine laute und gesellige Stimmung, und der Oberkommissar merkte, dass ihm der
Frühschoppen trotz anfänglicher Skepsis immer besser gefiel.
    Plötzlich
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