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Vogelwild

Vogelwild

Titel: Vogelwild
Autoren: Richard Auer
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umzuschichten,
bevor sie anschließend der Steinbruchbesitzer abholt.«
    »Dann ist der Verunglückte also im Vergleich zu den
anderen Arbeitern ein reicher Mann gewesen«, fasste Morgenstern zusammen.
    »Wie’s ausschaut, schon, aber was heißt schon
›reich‹«, mischte sich wieder einer der beiden Streifenpolizisten ein. »Mein
Vater hat den Job fünfzig Jahre lang gemacht. Dabei hat er sich die
Bandscheiben ruiniert und durchs viele Bier die Leber gleich mit dazu. Das ist
eine richtige Knochenarbeit.«
    Und auch eine gefährliche, dachte Morgenstern.
Lebensgefährlich sogar. Inzwischen hatte man den verunglückten Arbeiter auf
eine Trage des Roten Kreuzes gehoben. Der Mann war klein, muskulös, trug einen
Schnauzbart und hatte ein sonnengegerbtes Gesicht, das jetzt blutüberströmt
war. Morgenstern sah sich eine Hand genauer an, die unter der Decke
hervorschaute: Sie war braun gebrannt, jede Sehne an ihr war erkennbar, die
dicken, schwieligen Finger waren mit Hornhaut und zahllosen kleinen Narben
übersät. Malocherhände, fand Morgenstern. Richtige Malocherhände.
    Endlich trat auch der Notarzt zu den Polizeibeamten.
»Sie sehen ja selbst: Da kam jede Hilfe zu spät. Ich schätze, der Mann ist
direkt beim Unglück ums Leben gekommen. Falls nicht, ist er kurze Zeit später
unter dem Schutt erstickt.« Der erfahrene Landdoktor, ein Hausarzt mit
alteingesessener Patientenschaft, wirkte sichtlich mitgenommen. »Früher, auf
den Bauernhöfen, da gab es solche grausamen Unglücke noch öfter. Ab und an
passierte es eben, dass jemand von irgendetwas Schwerem, irgendeinem Gerät
erdrückt wurde«, erinnerte er sich, »das gehörte irgendwie dazu. Aber heute
sind alle viel vorsichtiger geworden – Gott sei Dank. Und trotzdem musste so
etwas passieren.« Er seufzte.
    Der Eichstätter Feuerwehrkommandant und seine Kollegen
aus der Stadt sowie aus Wintershof verharrten währenddessen im stillen Gedenken
um die Trage. Alle hatten ihre Helme abgenommen.
    »Oh Herr, gib ihm ewige Ruhe«, konnte Morgenstern den
Kommandanten murmeln hören.
    »… und das ewige Licht leuchte ihm«, antworteten
die Umstehenden.
    »Herr, lasse ihn ruhen in Frieden. Amen«, schloss der
Stadtbrandinspektor das kurze Gebet.
    Morgenstern ertappte sich bei dem Gedanken, ob das
christliche Totengebet für einen Moslem überhaupt Gültigkeit hatte, gab sich
für diese Pietätlosigkeit aber umgehend eine imaginäre Ohrfeige. Was sollte
Allah schon dagegen haben, wenn Menschen für einen Verstorbenen seiner
Glaubensrichtung beteten, auch wenn die Trauernden Christen waren?
    »Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte der Kommandant
Hauptkommissar Huber, der nun automatisch, wenn auch unverhofft, die
Einsatzleitung übernommen hatte und sich gewiss innerlich bereits für seine
zwei genossenen Weißbiere verfluchte.
    Etwas ratlos und hilfesuchend wandte sich Huber an
Morgenstern. »Was meinst du, Mike? Die Sache ist doch eindeutig ein
Arbeitsunfall?«
    »Sieht ganz danach aus«, antwortete Morgenstern und
blickte sich seinerseits nach Zustimmung um. In diesem Moment bemerkte er, dass
alle Umstehenden – mit Ausnahme der Feuerwehrler – sonntäglich gekleidet waren.
Logisch, fiel es ihm dann wieder ein, es war ja Fronleichnam, und auch die
Wintershofer Zaungäste, die sich inzwischen zahlreich und neugierig oben an der
Steinbruchkante versammelt hatten, trugen allesamt helle Hemden, dunkle
Stoffhosen und, was die weiblichen Katastrophentouristen anging, leichte
Kleider oder sogar Dirndl.
    Instinktiv trat Morgenstern einen Meter von der Trage
zurück und zog Huber zu sich heran: »Sag mal, dürfen die Türken eigentlich an
unseren Feiertagen arbeiten?«
    »Natürlich nicht«, antwortete Huber. »Meistens halten
sie sich auch dran, denn ansonsten steht ihnen Ärger ins Haus. Sonntags gibt’s
hier massenhaft Spaziergänger, denen die Schilder mit ›Zutritt verboten‹ völlig
wurscht sind, und wenn die die Türken beim Steineklopfen erwischen würden, gäbe
es mit Sicherheit eine Anzeige. Das hat sich in der Branche längst
herumgesprochen.«
    Morgenstern blieb skeptisch: »Und was ist mit einem
Feiertag wie heute? Ich meine: Fronleichnam? Den kennen ja nicht mal die
Evangelischen.«
    »Unsere Türken wissen schon Bescheid, mach dir darum
mal keine Sorgen. Die sind schon seit Ewigkeiten hier und kennen die
Spielregeln.«
    »Und trotzdem war der Mann im Steinbruch«, grübelte
Morgenstern. Ganz langsam näherte er sich wieder der Trage, zupfte an
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