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Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Titel: Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
Autoren: Lisa J. Smith
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wirklich aus Thoroughfare wegkäme. Sie hatte nur die vage Vorstellung, dass es einen Ort geben musste, an dem sie sich zu Hause fühlen konnte. Wo sie hinpasste, ohne sich verstellen zu müssen.
    Nie im Leben wäre ihr dabei Kalifornien eingefallen. Kalifornien war fast zu schön, um wahr zu sein. Und das Geld …
    Aber was war mit Dad?
    »Sie verstehen das nicht. Es ist mein Vater. Ich bin noch nie von ihm getrennt gewesen, seit meine Mutter gestorben ist. Er braucht mich. Er ist nicht … Er braucht mich wirklich.«
    Miss McCasslan sah sie mitleidig an. Sie kannte natürlich Kaitlyns Vater. Er war Philosophieprofessor gewesen und hatte viele Bücher geschrieben. Doch nach dem Tod von Kaitlyns Mutter hatte er sich verändert, hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen. Er summte vor sich hin und erledigte hier einen Job und dort einen. Dabei verdiente er nicht besonders viel. Wenn Rechnungen ins Haus flatterten, raufte er sich die Haare, voll Sorge und Scham. Er war fast wie ein Kind, doch er vergötterte Kait, und sie vergötterte ihn. Sie würde nie zulassen, dass ihn etwas verletzte.
    Ihn so früh zu verlassen, ehe sie überhaupt alt genug war, um auf die Universität zu gehen, und dann noch ins ferne Kalifornien, und ein ganzes Jahr lang …

    »Es geht nicht«, sagte sie.
    Miss McCasslan starrte ihre rundlichen Hände an. »Aber Kaitlyn, glaubst du nicht, er würde wollen, dass du tust, was am besten für dich ist?«
    Kaitlyn schüttelte den Kopf. Sie wollte sich keine weiteren Argumente anhören. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
    »Möchtest du nicht lernen, deine Gabe zu steuern? «, fragte Joyce.
    Kaitlyn sah sie an.
    Diese Möglichkeit war ihr nie in den Sinn gekommen. Die Bilder tauchten auf und ergriffen Besitz von ihrer Hand, ohne dass es ihr bewusst war. Sie erkannte immer erst, was sie gezeichnet hatte, wenn das Bild fertig war.
    »Ich glaube, du kannst es lernen«, sagte Joyce. »Ich glaube, du und ich, wir könnten das zusammen entwickeln. «
    Kaitlyn öffnete den Mund, doch ehe sie antworten konnte, hörte sie ein schreckliches Geräusch von der anderen Gebäudeseite her.
    Es war ein Krachen, Mahlen und Splittern. Und es war unglaublich laut, so laut, dass es keinen natürlichen Ursprung haben konnte. Es schien sehr nah zu sein.
    Joyce und Miss McCasslan waren aufgesprungen. Die korpulente kleine Rektorin war zuerst an der
Tür. Sie rannte durchs Sekretariat und hinaus auf die Straße, gefolgt von Joyce und Kait.
    Von beiden Seiten der Harding Street rannten Leute herbei. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Die kalte Luft biss Kaitlyn in die Wangen. Im flach einfallenden Sonnenlicht des Nachmittags ergaben sich scharfe Kontraste zwischen Hell und Dunkel. Das machte den Anblick, der sich Kaitlyn bot, noch intensiver und Furcht erregender.
    Ein gelber Geländewagen stand entgegen der Fahrtrichtung auf der Harding Street. Die Hinterräder befanden sich auf dem Gehweg, die linke Seite war völlig eingedrückt. Das Auto sah aus, als habe es sich gedreht. Kaitlyn erkannte es wieder: Es gehörte Jerry Crutchfield, einem der wenigen Schüler, die ein Auto besaßen.
    Mitten auf der Straße stand ein dunkelblauer Kombi. Die Schnauze war zusammengedrückt wie ein Akkordeon, das Metall zerknautscht, die Scheinwerfer waren demoliert.
    Polly Vertanen, eine Mittelstufenschülerin, zupfte Miss McCasslan am Ärmel. »Ich habe alles gesehen, Miss McCasslan. Jerry ist aus der Parkbucht rausgefahren, aber da kam der Kombi ziemlich schnell von hinten. Er hat ihn voll erwischt … Ich habe alles gesehen. Der Kombi war zu schnell.«
    »Das ist Marian Günters Auto«, sagte Miss McCasslan.
»Und das ist ihre kleine Tochter. Rührt sie nicht an! Nicht anrühren!« Die Rektorin sprach weiter, doch Kaitlyn hörte sie nicht mehr.
    Sie starrte auf die Windschutzscheibe des Kombis. Jetzt sah sie es.
    Um sie her schrien, rannten Menschen, doch Kaitlyn nahm sie kaum wahr. Sie hatte nur noch Augen für die Windschutzscheibe.
    Die Kleine war gegen die Scheibe geschleudert worden. Die Stirn des Mädchens berührte das Glas, ihre Augen waren geöffnet, als sähe sie hinaus.
    Weit geöffnet. Große runde Augen mit langen Wimpern. Bambi-Augen.
    Das Mädchen hatte eine kleine Stupsnase und ein rundes Kinn. Blondes lockiges Haar klebte an der Scheibe.
    Das Glas war zerbrochen. Es sah aus wie ein Spinnennetz, ein Spinnennetz, das dem Kind aufs Gesicht gedrückt worden war.
    »O nein, bitte, nein …«, flüsterte
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