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Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Titel: Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
Autoren: Lisa J. Smith
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Kind auf dem Bild musste ein Mädchen sein, bei den langen Haaren. Lockiges Haar. Ein hübsches kleines Mädchen mit Locken und einem Spinnennetz auf dem Gesicht.
    Es würde etwas geschehen, an dem ein Kind und eine Spinne beteiligt waren.

    Aber wo? Und welches Kind? Und wann?
    Heute? Nächste Woche? Nächstes Jahr?
    Sie wusste es nicht.
    So war es immer. Das war das Schrecklichste an Kaitlyns Gabe. Ihre Bilder waren immer zutreffend, sie bewahrheiteten sich zuverlässig. Immer geschah im wahren Leben, was sie vorher auf dem Papier gezeichnet hatte.
    Aber nie wusste sie rechtzeitig, was es war.
    Was konnte sie tun, jetzt, in diesem Moment? Mit einem Megafon durch die Stadt rennen und alle Kinder vor Spinnen warnen? In die Grundschule gehen und nach Mädchen mit lockigem Haar Ausschau halten?
    Wenn sie versuchte, sie zu warnen, würden sie doch nur vor ihr davonlaufen. Als wäre Kaitlyn verantwortlich für das, was sie zeichnete. Als bewirke sie es, statt es nur vorherzusagen.
    Die Linien der Zeichnung verschwammen vor ihren Augen. Kaitlyn blinzelte, um sie wieder gerade zu rücken. Eins würde sie jetzt bestimmt nicht tun: weinen. Denn Kaitlyn weinte nie.
    Niemals. Kein einziges Mal seit dem Tod ihrer Mutter. Damals war Kait acht gewesen. Seither hatte sie gelernt, ihre Tränen zurückzuhalten.
    Mr. Flynns Stimme, die so leise und melodiös war, dass die Schüler dabei sanft einschlafen konnten, war
verstummt. Jemand hatte das Klassenzimmer betreten.
    Chris Barnable, der in der sechsten Stunde als Schülerhelfer arbeitete, hatte einen rosa Zettel dabei.
    »Kaitlyn, du sollst bitte ins Rektorat kommen.«
    Kaitlyn kramte ihre Bücher zusammen. Sie hielt den Rücken sehr gerade, den Kopf hoch erhoben, als sie durch die Reihen ging und den Zettel entgegennahm. »Kaitlyn Fairchild ins Rektorat – sofort«, las sie. Dass das Kästchen hinter dem »Sofort« angekreuzt war, gab dem Zettel eine dringliche, ja fast bedrohliche Note.
    »Schon wieder Ärger?«, höhnte eine Stimme aus der ersten Reihe. Kaitlyn wusste nicht, wer es war, drehte sich aber auch nicht um. Sie verließ mit Chris das Klassenzimmer.
    Schon wieder Ärger, ja, dachte sie, während sie die Treppe zum Rektorat hinunterging. Was hatten sie diesmal gegen sie vorzubringen? Vielleicht die Entschuldigungen vom letzten Herbst, angeblich unterschrieben von ihrem Vater?
    Kaitlyn fehlte oft in der Schule, weil sie es manchmal einfach nicht aushielt. Wenn es ganz schlimm wurde, ging sie in die Piqua Road, dort, wo die Bauernhöfe waren, und malte. Dort behelligte sie niemand.

    »Es tut mir leid, dass du Ärger hast«, sagte Chris Barnable, als sie vor dem Rektorat standen. »Ich meine, es tut mir leid, falls du Ärger hast.«
    Chris sah nicht schlecht aus: glänzendes braunes Haar, sanfte Augen. Sie musste unwillkürlich an Hello Sailor denken, den Cockerspaniel, den sie vor Jahren gehabt hatte. Trotzdem ließ sie sich keine Sekunde hinters Licht führen.
    Jungs taugten einfach nichts. Kait wusste genau, warum sie nett zu ihr waren. Sie hatte die weiche Haut, das herbstrote irische Haar und die geschmeidige, gertenschlanke Figur ihrer Mutter geerbt.
    Doch ihre Augen waren einzigartig, und manchmal machte sie gnadenlos von ihnen Gebrauch. Jetzt bedachte sie Chris mit einem eisigen Blick, sah ihm direkt in die Augen.
    Chris wurde leichenblass.
    So reagierten die meisten Leute in ihrer Umgebung, wenn sie Kaitlyns Blick begegneten. Niemand hatte Augen wie Kaitlyn. Sie waren rauchblau, und die Iris war innen und außen jeweils mit einem dunkleren Ring eingefasst.
    Ihr Vater sagte, ihre Augen seien wunderschön. Die Feen hätten sie Kaitlyn als ein besonderes Geschenk mit auf den Lebensweg gegeben. Doch von anderer Seite hörte sie weniger schmeichelhafte Kommentare. Seit sie sich erinnern konnte, hörte Kaitlyn die
Leute flüstern, sie hätte gespenstische Augen, böse Augen. Augen, die Dinge sahen, die sie nicht sehen sollten.
    Manchmal setzte Kaitlyn sie als Waffe ein, wie in diesem Moment. Sie starrte Chris Barnable an, bis der arme Kerl einen Schritt zurücktrat. Dann senkte sie sittsam den Blick und betrat das Sekretariat.
    Sie spürte kurz ein makabres Triumphgefühl, aber einen Cockerspaniel einzuschüchtern, war wohl kaum eine große Leistung. Doch Kaitlyn hatte nun ihrerseits viel zu viel Angst, als dass sie sich darüber hätte den Kopf zerbrechen können.
    Eine Sekretärin bedeutete ihr, ins Büro der Rektorin zu gehen. Kaitlyn wappnete sich innerlich, dann
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