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Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)

Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)

Titel: Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
Autoren: Karsten Kruschel
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1. Lafayette
    Hatte das alles nicht mit She Tsi begonnen, dem kleinen stillen Chinesen? Natürlich war die Frage Unsinn, in Elizas Fieberphantasien jedoch spielte sie eine wichtige Rolle. Als gäbe es eine unheilvolle Verkündigung, einen Fluch. Eine durch höhere Macht verordnete Kette von Unglück, irgendwie verknüpft mit dem Gesicht Lafayettes. In Elizas klaren Augenblicken schien ihr die Welt der kreisenden Gedanken wirklicher als jene andere, in der man ihr den Nacken stützte, um ihr Brühe einzuflößen. Sie sah die wirklichen Menschen und Dinge verständnislos an, ehe sie wieder in die quälende Unentschlossenheit ihres vertrauten Fieberuniversums glitt. Der Schmerz, den die Nahrung in ihrer wunden Kehle verursachte, war weit entfernt und betraf eine andere Person. Nicht die Person jedenfalls, die immer und immer wieder von She Tsis Tod träumte.
    She Tsi war einer dieser stillen Leute gewesen, die zwar das volle Zugangsrecht zur Zentrale hatten, die man aber nie wahrnahm, weil sie zu unauffällig waren. Es gab nur diesen einen Auftritt für den kleinen Mann, dessen Arbeit mit den inneren Mechanismen des Schiffes zusammenhing. Eliza erinnerte sich in ihrer Verwirrung zahllose Male an jenen Tag vor fünf Monaten, als der Fluch zu wuchern begann. Unbemerkt von allen, hatte der Chinese seinen Werfer gezogen, den er wie alle Zentralier stets bei sich trug. Erst als das alarmierende Geräusch der Waffe verklungen und das Opfer zusammengebrochen war, blickten alle in einem Augenblick sprachloser Lähmung auf She Tsi. Er hatte den getöteten Kollegen mit ruhigem Blick gestreift und die Waffe wieder erhoben. Niemand konnte etwas dagegen tun. Es ging sehr schnell. Im selben Moment, da der Chefnavigator sich erstaunt umsah, war er tot. She Tsi schien fasziniert: Seine Augen leuchteten kurz auf, als empfinde er Freude beim Anblick eines zerplatzenden menschlichen Schädels.
    Eliza warf sich herum auf ihrem Lager, wenn ihr diese Szene vor Augen stand, und das kam oft vor. Später meinte sie, wohl tausendmal davon geträumt zu haben, aber das war sicher eine Täuschung. Hände hielten sie fest, weiche Riemen legten sich über ihren schweißnassen Körper. Gefesselt durchlebte sie den Rest des Alptraums. So stand sie in ihren verzerrten Erinnerungen gebunden in der Zentrale, während alles wieder und wieder geschah: She Tsis unverständliche und überraschende Mordtaten. Seine vollkommene Ruhe, mit der er das dritte Opfer ansah und die Hand mit der Waffe erhob. Lafayettes Sprung aus seiner Nische heraus, ein Sprung wie im Kino, sodass er breitbeinig dastand, vornübergebeugt, das Körpergewicht auf den ganzen Fußsohlen, beide Hände um den Werfer zu einer einzigen knochigen Faust geschlossen. Man merkte, woher Grégoire B. Lafayette kam. Das knallharte tägliche Training der Auswahl konnte niemand abschütteln. Und Eliza erinnerte sich an den heiseren Ruf Lafayettes. An den winzigen Augenblick, der dem zweiten Navigator das Leben rettete, denn She Tsi hatte bereits gezielt. Eliza erinnerte sich an She Tsis unbeteiligte Augen, die irgendwo weit weg waren. Etwas Fremdes glitzerte darin. Und Eliza erinnerte sich an die blitzschnelle Reaktion des Chinesen. Lafayette war gezwungen zu schießen. Sofort zu schießen. In Notwehr, den Bruchteil einer Sekunde früher als She Tsi.
    Eliza schrie grell auf in ihrem Fieberwahn – der gefächerte Strahl aus Lafayettes Waffe schnitt She Tsis Kopf glatt von den Schultern und schleuderte ihn fort. Der Körper des Chinesen stand für eine Sekunde regungslos. Dann kippte er nach vorn, während der Werfer ein drittes Mal losging und eine hässliche langgezogene Kerbe in den Fußboden meißelte. Das war es, was sie immer wieder in tiefere Regionen ihrer Bewusstlosigkeit stieß: dieser kopflos umsinkende Körper, aus dessen Faust ein greller Strahl leuchtete. Die Farbe eines unnatürlichen Feuers, das völlig fehl am Platz war in der Zentrale eines Weltenkreuzers; in einem Weltenkreuzer gab es keine grellen Farben. Alles war in zarten Pastelltönen gehalten, abgeglichen auf die Stimmungen der einzelnen Bereiche. Die Flure und Aufzüge waren babyblau, und die meisten Quartiere nervten ihre Bewohner mit lindgrün und zartrosa. Die Zentrale hingegen war immer eierschalenweiß. In der OOSTERBRIJK gab es in dieser Beziehung einige ungewöhnliche Farbtöne. Jahrzehntelange Benutzung hatte an manchen Stellen die Farben ausgelaugt, und wo man repariert hatte, stachen die neuen Teile durch ihre
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