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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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Das Aluminiumgeländer klappert und singt ganz
eigenartig, wahrscheinlich durch Resonanz dazu gebracht.
    Die Blase unter meinem Fuß macht mir
doch mehr Ärger, als ich erwartet habe. Auf den ersten Kilometern merke ich
kaum etwas davon, aber dann fängt sie allmählich zu brennen an. Auch die nähere
Betrachtung verheißt nichts Gutes: Ich habe eine große rote nässende Wunde an
meiner Sohle, genau dort, wo ich auftrete.
    Bald ist Sendelbach, ein kleines Dorf
gegenüber Lohr am Main, erreicht. Mein Fuß schmerzt immer mehr, ich fange schon
an zu hinken. Durch Fehlhaltung, womit ich meinen Fuß schonen möchte, fängt
auch mein linkes Knie an zu schmerzen. Obwohl ich erst drei Stunden gelaufen
bin, mache ich für heute Schluß und suche mir ein Zimmer.
    Nachmittags gehe ich über die Brücke
nach Lohr am Main. Der Apotheker zeigt mir die verschiedenen Wunder
versprechenden Pflaster für Fußblasen, aber er selbst hält nicht viel davon.
Nach seiner eigenen Erfahrung ist es das beste, wenn ich einfach Leukoplast
über die Wunde klebe. „Etwas besseres gibt es nicht! Und nicht abmachen! Wenn
es verrutscht, kommt die nächste Schicht drauf, solange, bis alles abgeheilt
ist.“ Das hört sich nach einer Roßkur an, aber er macht einen Vertrauen
erweckenden Eindruck auf mich, so möchte ich seinem Ratschlag folgen. Ich
verspreche ihm, daß ich so oder so, aber jedenfalls an ihn denken werde.
    Über mir ziehen vom Wind zerrissene
Wolken auf ihrer Bahn nach Norden. Der hohe Turm der Kirche zeichnet sich gegen
einem runden, hellen Fleck am Abendhimmel ab wie ein Scherenschnitt. Um das
Kreuz kreisen Scharen von kreischenden schwarzen Dolen. Eine malerische, mich
aber an Gespensterfilme erinnernde Szene.
     
     

Donnerstag, am 27. Februar
Von Sendelbach nach Marktheidenfeld
    Nach wie vor
regnet und stürmt es. Mein Fuß brennt, mein Knie schmerzt, sogar mein Hals
fängt an zu kratzen. Was mach ich bloß, wenn es lange noch so weiter regnet?
Der Regen bei der biblischen Sintflut hat vierzig Tage gedauert. Wir wissen aus
dem Katechismus, daß dies sich nicht wiederholen wird. Neununddreißig Tage
Regen wären danach aber noch möglich.
    Morgens um acht Uhr möchte ich
frühstücken und gehe in die Gaststube hinunter. Das Haus ist verlassen, kein
Mensch weit und breit. Man hat mich, den Gast, einfach vergessen. Das auch
noch!
    Die Nachbarin, übrigens die
sympathische Schwester des vergeßlichen Wirtes, sagt, daß das Wetter am
Nachmittag besser werden soll. So lasse ich mir sehr viel Zeit, bevor ich
losmarschiere.
    Um elf ist es soweit. Es ist nach wie
vor kalt und naß, grau und stürmisch, aber der Regen hat nachgelassen. Der
Wanderweg am Flußufer ist überflutet, ich weiche auf den Fahrradweg aus, aber
auch der ist streckenweise unter Wasser. Dann bleibt nur die Landstraße.
    Ein schmaler einsamer Uferweg führt von
Erlach nach Zimmern. Links ist der steile, hohe Berghang dicht bewaldet. Auf
der Rechten der von Erlen gesäumte, mächtige Fluß. Große Scharen von
schwarzweiß gefiederten Enten lassen sich von der schnellen Strömung tragen.
Wenn ich näher komme, schwärmen sie von der Wasserfläche schwerfällig hoch. Ich
bedauere es, sie in ihrer gewohnten Umgebung zu stören, und würde gern sagen,
daß sie von mir keine Angst zu haben brauchen.
    Vorbei an dem hübschen Städtchen
Rothenfels, das sich an dem anderen Flußufer wie eine Postkartenansicht
präsentiert, erreiche ich bald Marktheidenfeld Ein Zimmer ist schnell gefunden.
Kurz geduscht, dann in dem hauseigenen Café ein Mohnkuchen... Es gibt noch
Freude im Leben!
    Die alte Innenstadt ist schön renoviert
und recht stimmungsvoll, ohne einzelne hervorragende Sehenswürdigkeiten zu
bieten. Die Hauptkirche ist ein ehemals gotisches, später barockisiertes
Gotteshaus. Mein Zimmerfenster ist nur durch eine schmale Gasse von der
Nordwand dieser Kirche getrennt. Ich höre, wie die Orgel zur Spätandacht
spielt.
     
     

Freitag, am 28. Februar
Von Marktheidenfeld nach Wertheim
    Zuhause gelte ich
als Frühaufsteher. Jetzt würde ich am liebsten gar nicht aufstehen. Ich sehne
mich nach einem Sessel, einem Schreibtisch, wo ich verweilen, ohne daran denken
zu müssen, wann ich das Zimmer räumen muß.
    Dieser ständige Wechsel der Orte, Wege,
Räume und Menschen verursacht bei mir schon jetzt, nach kaum zwei Wochen eine
innere Verwirrung. Wenn ich dieses Tagebuch nicht schreiben würde, bekäme ich
viele Orte, Kirchen, Wälder und Landschaften nicht mehr in die
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