Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen
Autoren: Thommie Bayer
Vom Netzwerk:
gebohrt und sich nicht weiter über diesen widrigen Umstand
geäußert.
    Wagner saß hinten, die Süddeutsche Zeitung jetzt auf den Knien, und
hörte ein Lied in seinem Kopf: I’d like to be under the sea,
in an octopus’s garden in the shade . Er war dem Fahrer dankbar, dass er
ihn nicht mit Gerede behelligt hatte, und deshalb entschlossen, ein lobendes
Trinkgeld auf den Fahrpreis draufzulegen. Die Tauchfahrt hatte zum Glück nicht
lange gedauert, vielleicht zehn Minuten, höchstens zwölf, Wagner konnte
instabile Zustände nicht leiden. Schon als Kind hatte man ihn weder auf eine
Achterbahn noch auf ein Riesenrad oder auch nur Skier locken können – eine
Rolltreppe oder ein Aufzug waren das Äußerste an Bodenturbulenz, das er ertrug.
Ihm wurde nicht übel, sein Magen war robust, das Problem musste irgendwo in
seinem Gehirn liegen: Es war Angst, was ihn erstarren, erbleichen und nach der
nächstbesten Ablenkung suchen ließ, wenn der Seismograf in seinem Innern
ausschlug.

Kapitel 1
    MICHAEL musste auf den
Grasstreifen neben der schmalen Straße ausweichen, als ihm kurz vor dem
Friedhof das Taxi wieder entgegenkam. Auch der Taxifahrer lenkte seinen Wagen
vorsichtig mit höchstens fünf Stundenkilometern halb über die Wiese, sodass
sie, jeder mit erhobener Hand den anderen grüßend, ohne Kratzer aneinander
vorbeikamen.
    Der Parkplatz war voll, aber kein Mensch mehr zu sehen. Also kam er
zu spät. Michael sah auf seine Uhr: Viertel nach elf. Ohne den Regen hätte er
es vielleicht noch pünktlich geschafft, jetzt musste er sich möglichst
unauffällig hineinschleichen und hoffen, dass er die Trauerfeier nicht allzu
sehr störte.
    Die Zentralverriegelung quietschte und klackte, als er den Knopf auf
dem Schlüssel drückte. Er schob seinen Krawattenknoten zurecht und
kontrollierte dessen Sitz im Außenspiegel. Dann nahm er eine Zigarette aus der
Packung, die er schon beim Aussteigen in der Hand gehalten hatte, und zündete
sie mit einem Streichholz an. Er benutzte nie ein Feuerzeug, jedenfalls nicht,
solange Streichhölzer in Reichweite waren, er mochte den Geschmack des
Schwefels beim ersten Zug, obwohl er wusste, dass das Rauchen so noch
schädlicher war.
    Er ging die hundert Meter bis zur Kapelle langsam, um die Strecke
mit der Zigarettenlänge in Übereinstimmung zu bringen, trat vor der Tür die
Kippe aus, bückte sich danach, hob sie auf und warf sie in einen Papierkorb.
Bevor er den scheußlichen geschmiedeten Türgriff in die Hand nahm, um die noch
scheußlichere geschnitzte Tür möglichst leise aufzuziehen, dachte er noch,
Emmi, ich bin da.
    Drinnen sprach ein Pfarrer. Michael sah Wagner, Bernd und Thomas in
der zweiten Reihe. Nichts schien sie miteinander zu verbinden, ihrem Aussehen
nach konnte man sie für Fremde halten, die nur zufällig nebeneinandersaßen.
Wagner wirkte ungepflegt mit langen Haaren und gammeliger Kleidung, Bernd sah
drahtig und übertrainiert aus, Thomas war korpulent geworden und trug eine Art
aggressiver Zufriedenheit zur Schau.
    Sie hatten einen Platz für ihn frei gehalten. In der voll besetzten
ersten Reihe kannte er niemanden außer Angela, der Tochter der Verstorbenen,
und weiter hinten sah er noch zwei Klassenkameraden, an deren Namen er sich
nicht mehr erinnerte, und einen sehr krummen alten Mann, in dem er den
Internatsleiter von damals zu erkennen glaubte.
    Thomas winkte ihm mit solch überdeutlicher Unauffälligkeit zu, dass
sich alle Blicke sofort auf Michael richteten und er, so schnell er konnte, zum
freien Stuhl ging und sich setzte.
    Â»Auch schon da«, flüsterte Thomas und lenkte damit auch noch den
Unmut des Pfarrers auf sie.
    Â»Halt die Klappe«, sagte Michael sehr leise und nickte dem Pfarrer
zu, um sich zu entschuldigen und zu signalisieren, dass er seine Ansprache
fortsetzen solle.
    Die handelte vom Frieden in der Welt, den jeder Einzelne schaffen
könne, indem er achtsam auf seinen Nächsten blicke und sich dessen Sorgen und
Nöte vergegenwärtige. Dann haben also die Nachbarn von Hitler versagt, dachte
Michael und gab sich Mühe, seinen Gesichtsausdruck nicht die Geringschätzung
spiegeln zu lassen, die er für solch gratisgütiges Gerede empfand. Er warf
einen vorsichtigen Blick auf die anderen und sah, dass Bernd aufmerksam in
seinen Schoß starrte, als befürchte er, dort eine Erektion zu entdecken, und
Thomas
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher